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Fischen ist Männersache
Ob die Geister ihm heute einen guten Fang bescheren werden? Pali ist sich nicht sicher. Der Zwölfjährige kneift die Augen zusammen und schaut über das glitzernde Meer. Plötzlich entdeckt er ein paar helle Pünktchen, die in der Ferne über dem Wasser auf und ab schweben. "Ein Vogelschwarm!", ruft er aufgeregt und lacht. "Wo die Vögel fliegen, sind Fische!" Ein gutes Zeichen. Dort wird Pali heute sein Netz auswerfen.
Hier findet ihr eine Fotoshow und ein Interview mit Fotografin Tina Ahrens:
Fischen ist Männersache

Es ist noch sehr früh an diesem Sonntag, erst sechs Uhr, aber das halbe Dorf Anakao im Südwesten Madagaskars ist schon auf den Beinen. Aus den Hütten, die sich am Strand entlangschlängeln, kommen immer mehr Männer und Jungen, barfuß und in kurzen Hosen. Sie alle wollen fischen, und das ist Männersache. Pali fährt heute mit seinen Cousins Ruchi und Marou aufs Meer hinaus. Am Abend zuvor haben sie zusammen am Lagerfeuer die Löcher in ihren Netzen geflickt. Die Jungs wohnen Tür an Tür; die Hütten der Großfamilie stehen im Dorf eng beieinander. Hier lebt Pali mit seinen Eltern, drei Brüdern und zwei Schwestern, außerdem mit den Großeltern, Onkel, Tante und sieben Cousins - da ist immer was los.
Ein Gefühl für das Meer
Am Strand schleifen Pali, Ruchi und Marou unter Ächzen ihr Boot ins Wasser: eine Piroge, so schmal, dass gerade ihre Hinterteile hineinpassen. Als Pali etwa neun Jahre alt war, bekam er von seinem Vater seine erste Piroge, eine ganz kleine, zum Üben. "Damals durfte ich immer nur vor dem Strand auf und ab fahren", sagt Pali, "damit ich ein Gefühl für das Meer bekomme." Jetzt, mit zwölf, hat er ein größeres Boot; zwar nicht so groß wie jene der Erwachsenen, aber immerhin.
Toiletten gibt's nicht in Anakao

Der Strand ist nicht breit, aber "gefährlich": Ständig müssen die Jungs aufpassen, wo sie hintreten. In Anakao gibt es nämlich keine Toiletten, und deshalb verrichtet jeder sein Geschäft einfach am Strand. Bei Flut wird das Meer zur Klospülung, ansonsten muss man eben aufpassen. Als das Boot auf den Wellen wippt, springen die drei erleichtert hinein. Dann greifen Pali und Ruchi ihre Paddel und ziehen sie kraftvoll durchs Wasser. Große Fischer werden, das wollen alle Jungen in Anakao. Schließlich gehören sie zum Volk der Vezo! Früher waren alle Vezo sogar auf dem Meer zu Hause: Sie hatten keine festen Hütten, sondern wohnten in großen Pirogen auf dem Wasser. Erst seit wenigen Generationen sind einige Vezo an der Küste Madagaskars sesshaft geworden. Doch immer noch dreht sich bei ihnen alles um das Meer. Die Schule ist deshalb in Anakao auch kein großes Thema. "Wenn die Kinder klein sind, gehen sie hin", hat Palis Onkel am Vorabend erzählt. "Aber sobald ihre Freunde mit dem Fischen anfangen, müssen sie nicht mehr zur Schule. Dann lasse ich sie aufs Wasser." Pali jedenfalls findet das Fischen viel spannender als jede Schulstunde.
Die Geister der Toten
Als sein Boot ungefähr die Stelle erreicht hat, an der vor kurzem noch die Vögel jagten, wirft er sein Netz aus. Jetzt müssen die Jungs in der brütenden Hitze warten und dar auf achten, dass die Strömung sie nicht abtreibt. Vor allem nicht auf die kleine Insel zu, die sich unweit aus dem Meer hebt. "Das ist Nosy Vé", sagt Pali scheu. Nosy Vé, die Geisterinsel. Dort wohnen, so glauben die Vezo, die Geister der Toten. Aber nicht nur da: Die Geister sind einfach überall zwischen Himmel und Erde. Und meinen es zum Glück meist gut mit den Lebenden: Sie schützen das Dorf, heilen die Kranken und sorgen für volle Netze.
Ziegen und Rum

Davon sind die Vezo seit Urzeiten überzeugt. Und sie danken den Geistern auf ihre Art: Zweimal im Jahr bringen die Menschen aus Anakao Ziegen und Rum nach Nosy Vé. Und das ganze Jahr über halten sich die Fischer an die "Fadys" - die Verbote der Geister. Immer wieder schärft Palis Onkel den Jungs die wichtigsten Fadys ein: Wascht keine Tintenfische im Meer, sonst gibt es eine Flutwelle! Kocht nie eine Schildkröte in einem Topf mit Deckel! Und teilt euren Fang mit Familien, die leer ausgegangen sind - sonst wird bald niemand mehr etwas fangen.
Zwei Hosen und ein T-Shirt
Ob die Geister den Jungs dafür heute einen guten Fang bescheren? Pali kann es kaum abwarten nachzuschauen. Er setzt seine Taucherbrille auf, hüpft über Bord und verschwindet im Meer. Kurz darauf taucht er prustend wieder auf. Er strahlt. Kleine Tintenfische hat er im Netz glitzern sehen. Seine Cousins ziehen den Fang gleich hoch. Als die Jungen am Nachmittag an Land gehen, warten dort bereits die Frauen und Mädchen der Familie. Sie werden den Fang fürs Abendessen zubereiten - oder verkaufen. Pali ist zufrieden: Fast sechs Kilogramm Tintenfisch sind ins Netz gegangen. "Dafür gibt's auf dem Markt ungefähr 15000 Madagassische Francs", sagt er. Das entspricht knapp zwei Euro. Das meiste Geld bekommt seine Familie. Vom Rest darf Pali sich manchmal Kuchen oder Zuckerrohr kaufen. Für mehr reicht es nicht - Shorts etwa kosten im Dorfladen rund 20000 Francs. Deshalb besitzt Pali auch nur zwei Hosen und ein T-Shirt.

"Ich will weiter raus aufs Meer"

Wenn er einmal ein großer Fischer ist, wird er sich mehr leisten können, hofft der Junge. "Ich will weiter raus aufs Meer. Denn ich möchte riesige Mengen Fisch fangen!", sagte er, als seine Piroge wieder auf dem Strand liegt. Die Geister von Nosy Vé werden ihm sicher beistehen.