Freitag, 24. Juni 2016, gegen 7 Uhr: Die ganze Nacht über wurden die Stimmzettel ausgezählt. Am Vortag durften die Bewohner Großbritanniens darüber entscheiden, ob ihr Land in der Europäischen Union bleiben oder diese verlassen soll. Nun, während die meisten Briten an ihrem Frühstückstee nippen, gibt es Gewissheit: Mit einer winzigen Mehrheit von 51,9 Prozent haben sie sich für den Brexit entschieden (das Wort ist eine Kombination aus den englischen Begriffen „British“: britisch und „exit“: Ausgang). Erstmals verlässt damit ein Land die EU. Viele fragen sich an diesem Morgen: Wie konnte es nur so weit kommen?
Der lange Weg zum Brexit
Großbritannien - das ist an sich schon eine komplizierte Sache. Denn zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, wie es streng genommen heißt, gehören gleich vier Länder: Schottland, England, Wales und Nordirland. Sie und die EU führen von Anfang an eine komplizierte Beziehung.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist es der britische Staatsmann und Premierminister Winston Churchill, der die Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa" vorschlägt. Ob sein eigenes Land überhaupt dabei ist, lässt er offen. Denn die Menschen dort sind seit jeher stolz auf ihre Eigenständigkeit, ihre Einzigartigkeit. Groß ist die Angst der Briten, in einem Staatenbündnis unterzugehen.
Als 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläufer der EU, gegründet wird, sind sie deshalb nicht dabei. Sie wollen ihren eigenen Weg gehen. Bloß: Während die Wirtschaft bei ihnen in den 1960er-Jahren schwächelt, blüht sie in den Ländern der EWG. Der neue Staatenbund erleichtert es seinen Ländern, Geschäfte untereinander zu machen. Nun will Großbritannien auch in die EWG; 1973 wird das Land nach zähen Verhandlungen aufgenommen. Gerade erst drin, wollen jedoch viele gleich wieder heraus.
Das stört viele Briten an der EU
Mehr und mehr Briten finden, das Bündnis habe zu viel Macht und mische sich in alles ein: So bricht ein Riesenstreit aus, als europäische Hygienevorschriften die englischen Milchmänner verbieten wollen. Klingelnd und klirrend verteilen die jeden Morgen Milchflaschen in den Straßen – eine uralte Tradition. Am Ende gibt es eine Sonderregelung für Großbritannien, wie so manches Mal.
Anders als die meisten EU-Länder führen die Briten bis heute bei der Einreise strenge Passkontrollen durch: Ihnen ist unwohl damit, Fremde in ihrem Land leben und arbeiten zu lassen – „nur“ weil sie einen europäischen Pass besitzen.
Auch dem Euro haben sich die Briten nicht angeschlossen. Und bei den Zahlungen, die alle EU- Mitglieder leisten müssen, handelten sie besondere Bedingungen aus. Trotzdem waren sie nie zufrieden, EU-Gegner ätzten immerzu: Müssten wir mit unserem Geld nicht so viele ärmere EU-Mitglieder unterstützen, stünde unser Land besser da. Mit solchen Einwänden schafften sie es im vergangenen Jahr, eine Mehrheit der Menschen auf ihre Seite zu bringen.
Brexit-Wahl: Die Alten überstimmen die Jungen
Die Fernsehgrafiken, die sich am Morgen nach der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 aufbauen, zeigen ein uneiniges Land: Während die Großstädte und ganz Schottland blau eingefärbt sind (sie haben für „Bleiben“ gestimmt), leuchten die ländlichen Gegenden in England und Wales rot („Gehen“).
Bei näherem Hinsehen zeigt sich zudem: Die Mehrheit der über 50-Jährigen begrüßt den EU-Austritt, die Jüngeren sind dagegen. Denn sind sie es vor allem, die mit den Folgen einer solchen Veränderung leben müssen.
Die Folgen des Brexit für Großbritannien
Wie der Brexit das Leben der Menschen in Großbritannien verändert, kann derzeit niemand sagen. Die Austrittsverhandlungen haben im Juni 2017 begonnen. Vertreter der 28 Mitgliedsstaaten, die nun regelmäßig in der „EU-Hauptstadt“ Brüssel zusammenkommen, schwitzen. Einerseits, weil eben noch nie ein Land das Staatenbündnis verlassen hat. Andererseits, weil auch die Briten gar nicht mehr so genau wissen, was sie eigentlich wollen.
Theresa May, seit Juli 2016 die britische Regierungschefin, hatte sich lange für den sogenannten harten Brexit stark gemacht – eine „Scheidung“ mit allen Konsequenzen: kein zollfreier Handel mit den anderen EU-Staaten, kein unkompliziertes Umherreisen und Arbeiten, keine gemeinsamen Gesetze und – kein Cent mehr an die EU.
Doch bei den jüngsten Wahlen im Juni 2017 erhält Theresa May viel weniger Stimmen als erwartet. Besonders den Jüngeren gefällt die harte Linie nicht; sie schätzen die vielen Vorteile der EU. Auch die 1,2 Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, lernen und arbeiten, sorgen sich: Müssen wir unsere Wahlheimat nun verlassen? Schüler fürchten, dass der nächste Austausch flachfällt, Unternehmen, dass sie ihre Waren nicht loswerden, etwa weil Zölle diese verteuern.
Sie alle wünschen sich daher einen „weichen Brexit“ – eine Trennung in Freundschaft: Großbritannien wäre demnach kein EU-Mitglied mehr, aber dem Staatenbündnis weiterhin nahe, wie Norwegen. Auch die Norweger können problemlos in Europa Geschäfte machen, müssen dafür aber Geld an die EU zahlen, EU-Bürgern erlauben, in Norwegen zu leben und zu arbeiten, und etliche EU-Gesetze einhalten.
Wie geht es nun weiter?
Die EU wird den Briten nicht jeden Wunsch erfüllen. Sie können sich nicht die Rosinen herauspicken und nur die Vorteile des Bündnisses nutzen, sagen EU-Minister. Ließen wir das zu, kämen womöglich noch mehr Länder auf die Idee, die EU zu verlassen. Den Briten stehen also harte Verhandlungen bevor – zumal die Uhr tickt.
Denn die „Scheidung“ muss bis Ende März 2019 vollzogen sein. Wenig Zeit für eine Menge Beschlüsse. Was, wenn sie nicht ausreicht? Oder wenn man sich nicht einig wird? Einige europäische Staatschefs haben gesagt: Großbritannien könne den Brexit ja auch rückgängig machen. Die Tür zur EU stünde den Briten immer offen. Jene 48,1 Prozent, die im Juni 2016 gegen den Brexit stimmten, würde das sicher freuen.