Tad konnte sich nicht daran erinnern, dass Marians Blick je so leer gewesen war.
Marian, kleine Schwester. Marian, schmale Schultern, blasse Haut, blass selbst die Sommersprossen, das lange, lockige braune Haar, stumpf glänzte es im Licht der flackernden Laternen, die den Bahnsteig säumten.
Sie standen schon lange so da. Um Mitternacht hatte er sie geweckt, ihr einen warmen Mantel über das Nachthemd gezogen, hatte ihr in die Stiefel geholfen und dann im Schein einer Taschenlampe die schon am Abend zuvor gepackte Tasche unter dem Bett hervorgezogen, hatte Marian bei der Hand genommen und war mit ihr verschwunden, hinaus in die Nacht.
Es war zugig in der alten Halle, zugig und düster, obgleich die Laternen ein wenig fahles Licht spendeten, und ein beißender Geruch nach Benzin, Metall und Alkohol hing in der Luft.
Tad trug eine alte Sporttasche in der Hand, schmutzig, ein Riemen gerissen. Seine Hand ruhte auf Marians Schulter. Sie musste frieren, denn ihre Finger waren kalt, als er sie kurz berührte, so wie auch er fror, in abgetragenen Jeans, der Kragen der schäbigen Jacke hochgeschlagen. Seine Füße schmerzten vor Kälte, die Turnschuhe waren zu leicht für diese Jahreszeit.
"Der Zug kommt gleich." Tad fasste wieder nach Marians Hand, kalt war die Kinderhand, so kalt, so klamm. "Drinnen ist es warm. Mach dir keine Sorgen." Marian sah kurz zu ihm auf, antwortete nicht. Sie antwortete nie, war stumm, seit er sich erinnerte. Sie blickte ihn aus dunkelbraunen Augen an, dunkel wie der Kaffee, den sie sich vorhin aus einem Pappbecher geteilt hatten. Tad hatte außerdem ein belegtes Brötchen in Zeitungspapier geschlagen und mit in die Tasche gelegt, zu den Kleidern, zwei Hosen, ein paar Hemden und dem Strickpullover, den er ihr überlassen hatte. Ein Foto lag ganz unten in der Tasche, schwarzweiß und zerknittert. Es zeigte Marians Mutter. Tad erinnerte sich an sie, doch Marian hatte sie nie kennengelernt, und seine Erzählungen über sie hatten seiner Schwester nie genügt.
Tad warf einen Blick auf die Uhr, die groß wie ein blasser Vollmond an der gegenüberliegenden Seite der Halle hing. Ein Uhr. Die Nacht kroch durch die hohen Fenster, draußen hing der echte Mond, nicht mehr als eine Sichel, am schwarzen Himmel.
Irgendwo zerbrach klirrend eine Flasche. Das darauf folgende grölende Lachen erinnerte Tad an das Krächzen der Raben. Er wandte den Blick wieder ab, starrte angestrengt auf die schmutzigen Kacheln des Tunnels. Das Licht flackerte stärker, flimmerte wie in den alten Filmen, die er sich manchmal mit Marian angesehen hatte.
Noch einmal tastete er nach den Fahrkarten in seiner linken Hosentasche. Außerdem ein paar Mark, die Tad mühsam zusammengespart hatte. Ihr kostbarster Besitz. Ihre Fahrkarten ins Ungewisse für einen Zug in die Freiheit, wo immer sie liegen mochte. Weit weg, dort wo ein stummes Mädchen und ihr großer Bruder kein Aufsehen erregen würden.
Was dann?
Er wusste es nicht. Erst einmal fort. Die Angst, den Hass und die Gewalt ihres alten Lebens hinter sich lassen.
Er hörte den Zug, bevor er ihn sah. Sein Herz schlug schneller, als er die Lichter aus der Biegung des Tunnels auftauchen sah; im nächsten Moment waren die ersten Waggons schon an ihnen vorbei, und ein Windstoß erfasste Marians offenes Haar und zerrte an Tads Jacke. Waggon um Waggon passierte, alle hell erleuchtet und bis auf wenige Ausnahmen leer, und der Zug wurde langsamer, bis er schließlich zischend zum Stillstand kam.
"Komm, Marian", flüsterte Tad. Er fasste Marians Hand und sagte sanft: "Komm."
Er half ihr beim Einsteigen, kletterte hinter ihr die eisernen Stufen hinauf. Gleich das erste Abteil bei der Tür war leer; er schob die Tür auf, warf noch einen Blick zurück auf den Bahnsteig. Tad stellte die Tasche auf den Sitz, als der Zug mit einem schrillen Pfeifen anfuhr.
Der Bahnsteig und die Halle endeten in Dunkelheit. Dann waren da nur noch die Gleise auf beiden Seiten und die Lichter der niemals schlafenden Stadt.
Marian legte den kleinen Kopf an seine Brust und döste ein, während der Zug fuhr und fuhr.
Tad vergewisserte sich noch einmal, dass er die Fahrkarten dabei hatte. Doch er warf nicht einen einzigen Blick zurück auf die Stadt, bis die Nacht sie schließlich verschluckte.