Muscheln fingen die Tränen derer auf, dessen Angehörige das Meer verschlungen hatte, dann schlossen sie sich ganz fest und ließen sich erst wieder öffnen, wenn eine Perle aus den Tränen geworden war.
Hannah liebte diese Geschichte. Wie wertvoll mussten ihre Tränen dann wohl sein. Wie viele Perlen hatte sie schon geweint, seit diesem schrecklichen Sturm? Jeden Abend hatte sie sich seither in den Schlaf geweint, jeden Morgen war sie mit feuchten Augen aufgewacht. Nur Tagsüber sah man ihr nichts an. Sie verschloss ihre Gefühle hinter einer Maske, die wie aus Stein schien. Schon lange versuchte niemand mehr, ihr diese Maske vom Gesicht zu lösen, denn sie hielt sie immer noch hartnäckig fest. Das Mitleid der anderen machte alles nur noch viel schwerer, und so versteckte und sträubte sie sich gegen es. Anfangs war das so schwer gewesen, weil jeder sie hatte trösten wollen, ihr ihr Mitleid schenken wollen. Aber sie hatten doch alle keine Ahnung! Sie hatten ihre Eltern und Geschwister noch. Was wussten sie also?
Jeden Tag nach der Schule floh sie an den Strand, dort ließen sie sie alle in Ruhe. Dort konnte sie sich ihrem Schmerz überlassen, und ihrem Hass. Sie hasste das Meer, weil es ihr ihre ganze Familie genommen hatte doch gleichzeitig liebte sie es. Es rief nach ihr, mit seiner rauschenden Stimme, zog sie an, wie ein Magnet. Trotzdem hasste sie es, und nährte es gleichzeitig mit ihren Tränen. Auch heute war sie, kaum dass es zum Ende der letzten Stunde geläutet hatte, an den Strand gekommen. Weich und kühl schmiegte sich der feine, weiße Sand an ihre nackten Füßen und die rauschende Stimme des Meeres schmeichelten ihren Ohren. Sie genoss dieses Gefühl, diese Stimme und verabscheute sich im gleichen Moment dafür. Wie konnte sie das, was ihr alles genommen hatte nur so lieben? Langsam ließ sie sich in den Sand sinken und starrte auf das Meer hinaus. Der Himmel war von grauen Wolken verhangen, deren Farbe sich im aufgewühlten Wasser wiederspiegelte. Wie damals, dachte sie.
Fast glaubte sie zu sehen, wie ihre Eltern und ihr Bruder das kleine Fischerboot fertig machten, das damals ihnen gehört hatte, um trotz des schlechten Wetters die Netze einzuholen. Sie brauchten das Geld, dass ihnen die Fische einbrachten, außerdem konnten sie es nicht riskieren, dass ihre Netze zerrissen. Es würde zu lange dauern, sie zu flicken, weswegen sie länger keine Fische fangen könnten und so kein Geld verdienen würden. Sie mussten also fahren, obwohl es gefährlich war, zu gefährlich. "Wenn wir ein paar Muscheln finden, dann bring ich sie dir mit!", hatte ihr Bruder noch zum Abschied gerufen, dann waren sie losgefahren. Sie hatte am Strand gewartet, wie immer. Sich die Zeit damit vertrieben Muscheln zu sammeln, um später daraus Schmuck zu machen, doch sie hatte vergeblich gewartet. Das kleine Boot war nie zurückgekommen. In den nächsten Tagen war sie zu ihrer Großmutter gezogen. War unter dem Mitleid der anderen fast verrückt geworden. Hatte nicht nur die Nächte sondern auch die Tage durchgeweint, gebetet, ihre Familie möge doch noch heil zurückkommen, wenigstens einer von ihnen. Doch sie waren weggeblieben, waren tot, vom Meer verschlungen.
Mit Tränen in den Augen hob sie eine Muschel auf, die neben ihr im Sand lag. Sie schimmerte in einem blassen rosa, und wenn man sie umdrehte, dann sah sie aus, wie eine kleine Schale. Schon lange hatte sie keine solche Muschel mehr in den Händen gehalten. Die, die sie immer sammelte waren weiß, oder cremefarben. Aber solche rosa schimmernden, die hatte sie nie selbst gefunden, die hatte ihr immer ihr Bruder mitgebracht. Er hatte ihr nie verraten, wo er sie fand.
Sie schaffte es nicht mehr, ihre Tränen in den feuchten Augen zurückzuhalten. Sie drängten sich hinaus, liefen stumm über ihre Wangen. Erst einige Zeit später merkte sie, dass eine von ihren Tränen in die Muschel getropft waren, die sie immer noch verkehrt herum hielt, wie eine kleine Schale. Plötzlich fasste sie einen Entschluss. Es war Zeit ihre Tränen zu sehen, die vielen schönen Perlen. Langsam stand sie auf, um keine ihrer frischen Tränen, die sich in der Muschel gesammelt hatten, zu verschütten. Es würde nicht schwer sein, ganz einfach. Und trotzdem waren ihre Schritte zögerlich, als sie auf das Wasser zuging. Als ihre Füße von den ersten Wellen erfasst wurden spürte sie die stechende Kälte nicht. Stattdessen machte sich ein anderes Gefühl in ihr breit, eins, dass sie lange nicht mehr gespürt hatte. Freude.