Viele Besucher sind heute gekommen – alle wollen die drei Heuler sehen, die seit ein paar Tagen in der Seehundstation leben. Sie sind die ersten Seehundbabys, die in dieser Saison eingeliefert wurden. Max, Moritz und Adele heißen sie. Jeder von ihnen ist eine Frühgeburt, etwa zwei Wochen vorzeitig zur Welt gekommen. Jetzt müssen die Tiere aufgepäppelt werden. „Wir gehen am besten gleich in die Futterküche“, schlägt Tanja Rosenberger, die Leiterin der Station vor. „Es ist Zeit, das Fressen für die Kleinen zu bereiten!“

Jede Menge Fisch
Puh, hier stinkt’s! Und zwar gewaltig! Kein Wunder – schließlich liegt im Waschbecken der Futterküche ein 18 Kilo schwerer, gefrorener Block aus Heringen.

Er wird gerade aufgetaut. Die Stahlarmaturen der Küche blitzen vor Sauberkeit: "Hygiene ist hier das A und O! Bevor die Heulernahrung zubereitet wird, müssen die benötigten Utensilien noch mal gewaschen werden", erklärt Frau Rosenberger, während sie zackig mit Plastikbechern und Messlöffeln hantiert.
"Die Gefahr, dass die Kleinen sich mit Keimen infizieren und ernsthaft erkranken, ist sehr hoch. Wir müssen gründlich und vorsichtig sein!", erklärt sie. "Wir", das sind neben Frau Rosenberger und drei weiteren Angestellten auch immer drei bis vier junge Menschen, die in Friedrichskoog ein Freiwilliges Ökologisches Jahr oder ein Praktikum absolvieren und tatkräftig mitarbeiten.
Die Heuler und der Seehundjäger
Ein Seehundjäger hat Max, Moritz und Adele in die Station gebracht. Dieser jagt die Tiere jedoch nicht. Vielmehr ist er ist er für ihren Schutz verantwortlich, betreibt Informations- und Aufklärungsarbeit. Er macht Kontrollfahrten, birgt tote Meerestiere oder tötet kranke und schwache Seehunde.
Vor allem aber: Nur er ist berechtigt, einen gefundenen Heuler in die Station zu bringen. Er allein entscheidet, ob das Jungtier stark und gesund genug ist, um aufgezogen zu werden. Jeder Fall wird sorgfältig überprüft, damit kein Tier unnötig in Gefangenschaft gerät.

Bedrohung Mensch
Wie für viele andere Tierarten auch, ist für Seehunde das größte Problem der Mensch. Wasserverschmutzung, Schiffs- und Flugverkehr, Wattwanderer und nicht zuletzt der Klimawandel stören und zerstören den Lebensraum der sensiblen Meeressäuger. Werden nach der Geburt Mutter und Kind getrennt, muss aber nicht immer der Mensch Schuld sein: Oft gibt es dafür natürliche Ursachen wie etwa Sommerstürme und Gewitter. Weil die Kleinen noch nicht so gute, kräftige Schwimmer sind, gehen sie regelrecht verloren.
Auf dem Speiseplan der Heuler stehen Aufzuchtsmilch, Heringe und Haferschleim. Sechs Mal am Tag, alle drei Stunden. In freier Wildbahn dagegen gibt es für die Kleinen vier bis sechs Wochen nur Seehundmuttermilch. Sie hat einen Fettgehalt von 45 Prozent und lässt die Jungtiere in der Stillzeit das Dreifache des Geburtsgewichtes zunehmen. Zwischen 8 bis 12 Kilogramm wiegt ein Seehund bei seiner Geburt, die Frühgeburten etwa sechs bis sieben.

Die Aufzuchtsmilch für Welpen ist bei Weitem nicht so fettig und nahrhaft. Deshalb wird ihr pürierter Hering zugemischt. Und ein Löffel Haferschleim. "Weil die drei Freunde Durchfall haben, und Haferschleim die Darmpassage verlangsamt", sagt Tanja Rosenberger.
Mit flinken Fingern bereitet sie für die Seehunde den Brei zu: Unter lautem Getöse wird der Hering durch den Fleischwolf gedreht und anschließend mit Hilfe des Stabmixers mit dem Milchpulver und dem Haferschleim zu einem sämigen Brei verquirlt. "Jetzt aber schnell, die Herrschaften sind bestimmt schon ungeduldig."
Nu aber to!
In Windeseile hat sich die Stationsleiterin eine grüne Anglerhose übergestreift. „Die brauche ich gleich zum Schwimmen mit den Kleinen, damit ich nicht nass werde.“ Mittlerweile hat der Himmel seine Pforten geöffnet und schickt reichlich Regen hinab. Tanja Rosenberger scheint das nicht stören - zielstrebig stapft sie ins Heulergehege. Und da liegen sie: Drei kleine Seehundbabys im Sand. Zusammengekauert, ein bisschen verpennt und heulend. Ungefähr so klagend wie die Möwen, die am Himmel streifen.
Warum heißen Heuler eigentlich Heuler?

Die Laute, denen die Seehundbabys ihren Namen zu verdanken haben, klingen wie ein tiefes, heiseres Hupen. Jeder junge Seehund heult, das ist sein Kontaktlaut zur Mutter (wie das Miauen bei Katzen). Am Heulen und am Geruch erkennt die Mutter ihr Jungtier. Kaum haben die Heuler die Frau mit Futter gesehen, robben sie in Seehundmanier und im Eiltempo auf sie zu, um noch mehr zu heulen. Sie sind aufgeregt und wissen offenbar, dass es gleich etwas zu futtern gibt. Zunächst jedoch befördert Frau Rosenberger, nicht gerade zimperlich, die drei in ein kleines Wasserbecken. Zum Flossenvertreten. „Die sind tatsächlich etwas Wasserscheu. Freiwillig gehen sie noch nicht ins Wasser“, erklärt sie lachend. Schwupp - mit einem Robbensatz sind sie auch schon wieder draußen und heulen erneut.
Kleiner Magen, großer Hunger
Tanja Rosenberger schnappt sich den kleinen Seehund Adele (trotz seines Mädchenamens ist Adele ein Junge!), geht in die Hocke und klemmt sich das Tier zwischen die Knie. Behutsam führt sie ihm einen Schlauch ins Maul, der den abgemessenen Brei aus einem Trichter in den kleinen Magen laufen lässt. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei.
Mit den anderen beiden läuft es genauso. So richtig satt wirken die drei nicht. Jammern und Heulen nützt nichts – wieder landen sie im Becken. Diesmal ist eine Runde Verdauungsschwimmen angesagt, dann wird geschlafen. Schnell räumt Frau Rosenberger noch ein wenig im Aufzuchtsbecken auf. „Wir sehen uns in drei Stunden wieder!“ Mit diesen Worten verabschiedet sich die Pflegerin von den Seehunden.
Die Aufzucht
Nach seiner Ankunft in der Station wird ein Heuler von einem Tierarzt erst einmal gründlich untersucht: Wie schwer ist das Tier? Wie lang? Wie alt? In welchem Zustand befindet es sich?

Nach der Untersuchung bekommt der junge Seehund etwas Körperschmuck, nämlich eine Flossenmarke. Die ist nützlich, um das Tier eines Tages in freier Wildbahn zu erkennen. Drei Tage bleibt das Seehundbaby in der Quarantänestation, bevor es ins Aufzuchtsbecken geht. Hier landen früher oder später alle Heuler – bis zu ihrer Auswilderung, bis zum Umzug ins Auswilderungsbecken bleiben die Tiere zusammen.
Anfangs gibt es noch den guten Brei. Wird dieser problemlos vertragen, bekommen die Kleinen schon bald die ersten Fischstückchen: erst Heringsfilet püriert, dann Brei ohne Kopf und später Brei „pur“, erst dann folgen Stücke zu futtern. Und wenn es mit dem selbstständigen Fressen gut klappt, stehen dann bereits ganze Fische auf dem Speiseplan. So nehmen die Jungtiere pro Woche zwei bis drei Kilo zu.
Das Auswilderungsbecken
Haben die Seehunde ein Gewicht von circa 15 Kilogramm erreicht, ist ein Umzug ins Auswilderungsbecken angesagt. Allerdings müssen sie wirklich selbstständig fressen können und dürfen nicht krank sein. Noch sind keine da. Das Becken ist von einer Düne umgeben und für Gäste nur per Kamera einsehbar.
Dort werden sie dreimal täglich, später nur noch morgens und abends, gefüttert. "Die Tiere sollen so wenig wie möglich mit uns Menschen zu tun haben", sagt Tanja Rosenberger. "Schließlich müssen sie in der Wildnis allein zurecht kommen. Im Auswilderungsbecken werden sie darauf vorbereitet", fügt sie hinzu.
Zum Auswildern benötigen die Tiere das Minimalgewicht von 25 Kilogramm. Dann macht der Tierarzt eine Abschlussuntersuchung und erteilt ein Gesundheitszeugnis. Nur wirklich gesunde Tiere dürfen in die Freiheit, damit sie andere Wildtiere nicht gefährden oder anstecken. Gibt der Doktor sein O.K., beantragt die Seehundstation beim Nationalpark Wattenmeer eine Auswilderungsgenehmigung: Nach zwei bis drei Monaten in der Station geht es endlich in die Freiheit, zu den Artgenossen!
Rauf auf’s Boot, ab ins Meer
In kleinen Booten oder auch mal mit dem Fischkutter des Stationsgründers geht es mit den Tieren auf See. „Wir ankern immer vor einer Sandbank, auf der andere Seehunde liegen“, erklärt Frau Rosenberger. „So haben sie gleich Anschluss zu ihren Artgenossen.“ In sicherem Abstand geht die Crew vor Anker. Bevor ein ehemaliger Heuler von Bord rutscht, kriegt er eine weiße Farbmarkierung auf den Kopf. So ist er für eine gewisse Zeit auch aus weiter Entfernung im Wasser und an Land erkennbar.
„Einige sind sofort weg, andere drehen noch ein paar Runden ums Boot. Die meisten von ihnen sehen wir nie wieder“, erzählt die Stationsleiterin. Manchmal gibt es Meldung von Helgoland, dass dort ein Seehund vor der Küste aufgetaucht ist. Dank Flossenmarke kann er zugeordnet werden.
Von der Seehundstation Friedrichskoog liegen dort immer ein paar im Rudel. „Für uns ist eine solche Meldung immer schön! Dann wissen, dass sich die Tiere gut eingelebt haben und ein normales Seehundleben führen“, freut sich die Pflegerin.
Noch sind sie zu dritt

Seit 1985, als die Station gegründet wurde, wurden fast 500 Heuler dort aufgezogen und anschließend ausgewildert. Aber nicht alle, die kommen, überleben. Einige sterben während der Aufzucht, andere nach ihrer Auswilderung. Meist an Magen-Darm-Erkrankungen. „Das ist der Lauf der Dinge, da kann man nicht viel tun“, sagt Frau Rosenberger. Ob Max, Moritz und Adele es schaffen werden, weiß sie nicht.
Aber sie weiß, dass die drei nicht die einzigen Heuler in diesem Sommer bleiben werden: „Die eigentliche Geburtszeit fängt erst im Juni an. Es werden etwa 2000 Geburten erwartet. Wir rechnen auch in diesem Sommer mit bis zu 70 Heulern in unserer Station“, erklärt sie. „Und wir erwarten sie mit Freude, Herz und Engagement!“
Falls ihr mal einen Heuler findet
Fasst, diesen bitte nicht an! Für den Fall, dass die Mutter doch noch zurückkommt, würde sie ihr Kind nicht mehr annehmen.
Haltet Abstand (Hunde fernhalten!) und benachrichtigt sofort den Seehundjäger, die Seehundstation oder die Polizei! Die Rufnummern hängen an Tafeln am Strand aus.
Auch ihr könnt den Heulern und den anderen Seehunden einen Besuch abstatten! Die Seehundstation Friedrichskoog hat täglich geöffnet - auch an Sonn- und Feiertagen.
Öffnungszeiten Sommer: Von März bis November
9:00 bis 18:00 Uhr
Öffnungszeiten Winter: Von November bis März
10:00 bis 17:30 Uhr.
Seehundstation Friedrichskoog
An der Seeschleuse 4
25718 Friedrichskoog
Tel.: 04854 / 1372