Ist euch das Meer schon einmal unheimlich vorgekommen? Bei starkem Wind zum Beispiel, wenn die Brandung so laut rauscht, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Oder beim Baden. Ich kann mich noch sehr gut an ein paar Wellen des Pazifiks erinnern, die mich in Sydney mit einer solchen Leichtigkeit umgeworfen haben, dass mir angst und bange wurde und ich mich wahrhaftig wie in einer "Waschmaschine" gefühlt habe, von der die Surfer immer reden, wenn eine Welle über ihnen bricht.
All das aber ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was Menschen erleben, die bei einem Sturm in Seenot geraten. Für unser GEOlino extra "Das Wetter" sind Bildredakteurin Eva Pradel und ich nach Norddeich gefahren, um die Crew des Seenotrettungskreuzers "Bernhard Gruben" zu besuchen.
Kay Goldenstein und sein Team hatten vor einem Jahr einen russischen Seemann aus der Nordsee gefischt. Eine Welle hatte ihn während eines Sturms von Bord seines Frachters gerissen. Welche Angst muss dieser Mann gehabt haben, fragte ich die Seenotretter, nachdem sie mir die Geschichte erzählt hatten. Schließlich war er ganz allein auf hoher See! Weit und breit kein Land in Sicht; die Wellen meterhoch!
"Probiere es doch selbst einmal aus", schlug Vormann Kay Goldenstein vor. "Wir fahren jetzt gleich ein Stückchen raus, dann ziehst du dir einen Überlebensanzug an und springst einfach mal rein." Ich gebe zu, im ersten Moment glaubte ich, er wolle mich auf den Arm nehmen. Doch Kay meinte es ernst, und ehe ich es mir anders überlegen konnte, halfen mir seine Kollegen Michael und Jochen in den Überlebensanzug.
Der Anzug ist ein Ganzkörperanzug. Das heißt, er besteht aus einem Stück. Die Hosenbeine gehen unten direkt in Stiefel über. An die Hals- und Armöffnungen schließen sich ein Rollkragen oder Bündchen an, die so eng anliegen, dass wirklich kein Wasser in den Anzug eindringen kann. Auch dann nicht, wenn man kopfüber ins Meer springen würde.
Man klettert durch eine Öffnung am Bauch in ihn hinein, legt zwei Gurte – so eine Art Hosenträger – an, zieht das Halsstück über den Kopf und schließt dann den großen, wasserdichten Reißverschluss in Brusthöhe. Für die Seenotretter gehört dieser Überlebensanzug zur Grundausrüstung. Sie tragen ihn bei jedem ihrer stürmischen Einsätze und können ihn so schnell anziehen, wie andere in ihren Schlafanzug schlüpfen.
Als ich schließlich wasserdicht verpackt bin, hat der Seenotkreuzer ein Gebiet vor der Nordseeinsel Norderney erreicht. Ich kann den Strand noch sehen. Ob ich es aber in einem Notfall schaffen würde, ans rettende Ufer zu schwimmen, weiß ich nicht genau. Die Wellen rollen mit einer Höhe von etwa zwei Metern vorbei. Das Wasser ist gruselig grau – und wenn ich ehrlich bin, jagt mir der Gedanke, gleich von Bord zu hüpfen, mächtig Angst ein.
Mein einziger Trost in diesem Moment ist: Im Gegensatz zu dem russischen Seemann werde ich nicht allein auf offener See herumdümpeln. Seenotretter Jochen wird mit mir springen und das Schiff nur wenige hundert Meter weit weg fahren und dann umkehren, um uns "zu retten".
Während Kay die Maschinen drosselt, haken Michael und Timo die Reling aus. "Los geht’s", sagen ihre Blicke. Jochen springt zuerst. Er taucht erstaunlicher Weise nur ein bisschen ins Meer ein, denn die Luft im Überlebensanzug drückt ihn sofort an die Wasseroberfläche zurück – genauso, wie es auch ein Schwimmring oder eine Luftmatratze tun würden.
Jetzt bin ich an der Reihe: Oh, oh … Wie tief das Wasser hier wohl ist? Fünf Meter? Zehn oder 60? Keine Ahnung? Gibt es hier draußen Haie? Nein...Los, hab dich nicht so! Ich kneife die Augen zu, atme einmal tief ein und stoße mich ab. Es klatscht! Wasser spritzt mir ins Gesicht. Es fühlt sich viel wärmer an, als ich erwartet hatte. Etwa 13 Grad Celsius hat die Nordsee an diesem Septembertag – genauso viel wie damals, als der russische Seemann über Bord gegangen war.
Bei solchen Temperaturen schützt der Überlebensanzug einen Schiffbrüchigen etwa 14 Stunden lang. Aber auch das ist nur ein Schätzwert: "Sportlich fitte Menschen, also so richtige Kämpfer, überleben in der Regel länger, als jemand, der keinen Sport treibt", sagt Andreas Lubkowski, Pressesprecher der Seenotretter.
14 Stunden? So lange werden uns Kay, Michael und Timo hier hoffentlich nicht treiben lassen. Ich liege flach wie ein Stück Treibholz im Wasser. Ab und zu rudere ich mit den Armen, um mich nicht vollends von den Wellen davontragen zu lassen. Die Schwimmbewegungen bringen jedoch so gut wie nichts. "Wer auf offener See treibt, sollte auch nicht versuchen, irgendwo hin zu schwimmen", erklärt mir Jochen. "Bei dieser Bewegung verbraucht er unnötig Energie. Wohin will man denn schwimmen, wenn man kein Land sieht und nichts hat, um sich zu orientieren? Da hilft nur treiben lassen, abwarten und auf Rettung hoffen."
Unsere Retter sind derweil rund 300 Meter davon gefahren und wenden den Kreuzer. Der Wind zerrt an meinem Anzug, so als wolle er mich unbedingt hinaus aufs offene Meer schieben. Kaum vorzustellen, wie groß seine Kraft ist, wenn er mit Stärke zehn oder elf über die Nordsee schießt.
Das Schiff kommt näher. Stück für Stück schiebt es sich an uns heran. Ein beeindruckender Anblick – und erstaunlich zugleich. Der Kreuzer ist über 20 Meter lang, dennoch hat es den Anschein, als könne Kay ihn auf einem 2-Euro-Stück wenden, so punktgenau steuert der Vormann sein Schiff.
Michael und Timo halten eine Wurfleine in den Händen. Als das Schiff nur noch zehn, zwölf Metern von uns entfernt ist, werfen sie uns die Leine zu. Ich bekomme sie vorn zu fassen, Jochen greift das Ende. Ein beruhigendes Gefühl. Die beiden Seenotretter an Deck legen sich nun auf den Bauch und rutschen so weit mit dem Oberkörper über die Bordwand hinaus, dass sie mit den Armen fast bis ins Wasser greifen können. Ich strecke ihnen meine Hände entgegen. Nur noch ein kleines Stück!
Eine Welle hebt mich empor, Timos Arme sind zum Greifen nah. Doch ich erwische sie nicht und rutsche den Wellenberg hinab wieder in die Tiefe. Ein zweiter Versuch.
Als die nächste Welle kommt, recke ich mich mit Schwung und bekomme Timos Hand zu fassen. Gleichzeitig packt mich Michael am Rücken und zieht mich mit einem Ruck aufs Deck.
Da liege ich nun – hilflos wie eine Robbe an Land und doch zutiefst erleichtert. Der russische Seemann hat sich damals wahrscheinlich so gefühlt, als begänne für ihn ein neues Leben. Denn nach zwei Stunden in der stürmischen Nordsee hätte wohl jeder den Glauben an Rettung aufgegeben.
Ich robbe schnell zur Seite – schließlich schwimmt Jochen noch im Wasser – und schaue dann zu Eva hoch, die von der Brücke aus unsere Rettung fotografiert hat. Für die Crew war dieser Einsatz eine kleine Übung, wie sie die Männer regelmäßig absolvieren, um für den Notfall gewappnet zu sein. Für mich bleibt dieser Tag ein unvergessliches Recherche-Erlebnis.