Der Verkehr auf der Südharz- Autobahn will an diesem Novembertag nicht abebben. Autos, Lastwagen und Motorräder rasen über den vierspurigen Asphaltstreifen. Würde "M2" jetzt versuchen, die Straße zu überqueren, er wäre vermutlich sofort tot.
Was also soll der junge Luchs machen? Im Wald nimmt M2 jedes Hindernis. Er kraxelt mühelos Bäume hinauf und hinunter, springt über fünf Meter weit und schwimmt im Notfall sogar durch Flüsse. Die Autobahn aber scheint für ihn unüberwindbar zu sein. Und zurückkehren nach Norden, in den Nationalpark Harz, wo er vor anderthalb Jahren das Licht der Welt erblickt hat, kann er nicht. Denn die Reviere in seiner Heimat sind bereits an ältere und somit stärkere Luchse vergeben. Für Jungtiere wie M2 gibt es im Harz kaum noch Platz. Dabei waren die Raubkatzen dort rund 180 Jahre lang ausgestorben.
Auswilderung
Erst im Jahr 2000 beginnen Tierschützer, 24 Luchse im Harz auszuwildern. Die Tiere fühlen sich in dem Mittelgebirge wohl: Sie machen erfolgreich Beute und bekommen seit acht Jahren regelmäßig Nachwuchs.
Zehn Monate lang bleiben die Jungen bei ihrer Mutter, anschließend suchen sie sich ein eigenes Waldrevier. Was gar nicht so einfach ist: Luchsweibchen dulden es zwar, wenn Nachbarn die Reviergrenzen gelegentlich überschreiten. Kuder jedoch, so heißen die Männchen, verteidigen ihr Territorium eisern gegen jeden Konkurrenten. Genügen Grollen und Fauchen nicht, um den Eindringling zu verjagen, fahren sie die Krallen aus.
Für einen solchen Revierkampf fehlt M2 im April 2009 noch die Kraft. Darum macht sich der Jungluchs auf den Weg und verlässt den Harz in der Nähe des Städtchens Osterode. Er streift bei Hattorf und weiter südlich im Ohmgebirge durch kleinere Waldgebiete, macht in Getreideund Rapsfeldern Jagd auf Rehe. Und bemerkt dabei nicht, dass ihm Ole Anders von Anfang an auf der Spur ist!
Der Luchsexperte sitzt 50 Kilometer entfernt in seinem Nationalpark-Büro in Sankt Andreasberg und verfolgt M2 mithilfe von GPS-Daten, die ihm ein Sender am Halsband der Raubkatze funkt. Der Kuder trägt es, seit im November 2008 ein Auto die Mutter des Luchses überfuhr. M2 war damals erst wenige Monate alt. Allein zurückgelassen, drohte M2 und seiner Schwester der Hungertod. Doch Ole Anders fing die beiden abgemagerten Kätzchen ein und päppelte sie auf. Bevor er den Kuder wieder freiließ, verpasste er ihm den Sender – und den Namen. "M" steht für Männchen, die Nummer "2" besagt, dass der Luchs der zweite von vier ausgewählten Halsbandträgern ist. Die schlichte Namenswahl hatte aber auch einen zweiten Grund: "Wir wollen die Tiere nicht vermenschlichen und zu sehr ins Herz schließen", erklärt Ole Anders.
Eine Heimat für den Luchs
Die Wanderung seines Schützlings verfolgt er trotzdem mit Spannung. Vor allem, wenn M2 nachts durch die Göttinger Vororte schleicht oder sich wie an diesem Novembertag direkt an der Südharz-Autobahn aufhält. Wird die Raubkatze über die Straße laufen? Die Antwort auf diese Frage erhält Ole Anders am 24. November 2009. Der Sender vermeldet einen neuen Standort - M2 befindet sich südlich der Autobahn, auf der anderen Seite also! Der Luchs war so lange am Straßenrand entlanggewandert, bis er in der Nähe des Dorfes Kirchgandern jene Stelle erreicht hatte, an der die Autobahn in einem Tunnel verschwindet. Oberhalb der Straßenröhre gibt es nichts als Wiese und Wald. Eine sichere Landbrücke, über die M2 auf die andere Seite stolziert ist.
"Es müsste viel mehr solcher Grünbrücken und Wildtunnel an viel befahrenen Straßen geben", sagt Ole Anders. Auf diese Weise könnten noch mehr Luchse auf Wanderschaft gehen und vielleicht irgendwann wieder in ganz Deutschland heimisch werden. Ausreichend große Waldgebiete gäbe es zum Beispiel in der Lüneburger Heide und an der deutsch-polnischen Grenze. M2 hat seine Reise inzwischen beendet: "Er lebt jetzt südöstlich von Kassel", erzählt Ole Anders. Und es scheint, als habe M2 neben einer neuen Heimat auch eine Herzensdame gefunden - das haben Spuren im Schnee verraten!
