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Das erste Mal dabei
Hey, Schlafmütze, aufwachen!", ruft der Vater. Es ist noch dunkel, als Harun aus der Lehmhütte ins Freie tritt. Sein Vater, der große Bruder, alle Erwachsenen des Dorfes grinsen. "Na, doch keine Lust mitzukommen?", fragt einer. Und ob! Heute beginnt Haruns große Fahrt: auf einem Bambusfloß den Fluss hinunter, mit der Strömung immer Richtung Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Schlafen auf dem Wasser! Mit den Männern kochen! Wilde Vögel beobachten! "Vor allem arbeiten", sagt der große Bruder und gibt Harun einen Klaps.
Vielseitiger Rohstoff
Bambus: In Haruns Heimat Bangladesch, ja in fast ganz Asien, ist das ein Superstar unter den Pflanzen. Die Stangen sind leicht und biegsam, aber so stabil, dass man Brücken und Baugerüste daraus macht, wie bei uns aus Stahl. Manche Arten werden bis zu 50 Meter hoch. Kaum zu fassen, denn Bambus zählt zu den Gräsern. Zu den Süßgräsern, um genau zu sein.
Haruns Dorf liegt im Nordosten des Landes, in der Provinz Sylhet, nahe der indischen Grenze. Die Menschen dort leben davon, die Halme zu fällen und zu verkaufen. Neben dem Dorf beginnt ein dichter Bambuswald, in dem Affen und Schlangen leben - und durch den sich die Bambusschnitter nun ihren Weg zum Fluss schlagen.
Bambuskunde und Männerarbeit
Abends in der Hütte hat der zwölfjährige Harun noch schreiben und lesen geübt. Tagsüber gibt es nur ein Fach: Bambuskunde. "Du darfst nie die ganz jungen Triebe abschneiden", erklärt ihm der Vater. "Und du musst immer einen alten Halm bei den jungen stehen lassen - wie in einer Familie." Ganz schön störrisch, so ein Bambus! Harun säbelt und säbelt. Zwischen 60 und 80 Stangen werden im Wasser zu dicken Bündeln verschnürt. Das ist Erwachsenenarbeit.
Aufbruchsstimmung
"Auf, lasst uns losfahren!" Haruns Vater hat seine Bündel aneinander gebunden, wie einen schwimmenden Güterzug. Einmal pro Woche lenken die Männer so ihre Bambusernte 15 Kilometer flussabwärts bis zur ersten Sammelstelle nach Continada. Das ist eine Tagesreise. Hier bekommen sie ihren Lohn: umgerechnet drei Cent für jede Stange. Ein guter Schnitter schafft wöchentlich etwa 500 Stangen, das entspricht 15 Euro.
Angst vor Piraten
Doch diesmal ist es für Harun mehr als eine Tagesreise. Zum ersten Mal darf er mit dem Bambus weiterfahren, bis in die Stadt Fenchuganj. Bündel um Bündel schnüren die Männer nun zu Flößen zusammen. Auf einem errichten sie eine runde Hütte - natürlich auch aus Bambus. Ein wichtiger Schutz, wenn mittags die Sonne brennt. Hier schläft die Mannschaft auch, nur ein paar Zentimeter über dem Wasser. Falls man überhaupt einschlafen kann: Was war das, dieses verdächtige Plätschern? "Bitte! Bloß keine Piraten!", murmelt Harun. Flusspiraten sind gefürchtet. Sie kommen im Dunkeln mit Booten, haben Gewehre und berauben die Flößer.
Doch am nächsten Morgen ist alle Furcht vergessen. Sie trinken Tee und brechen wieder auf. Die Flöße müssen mit langen Stangen gelenkt werden, damit sie jedem Hindernis ausweichen und nicht stecken bleiben. Zum Beobachten der Vögel und der Wälder am Ufer bleibt Harun kaum Zeit. Vor Einbruch der Nacht ankern die Flöße, und der weißbärtige Nuru, der Chef, bereitet auf einem Feuer Reis und Gemüsecurry zu.
Bis ans Ziel
Zehn Tage lebt Harun so auf dem Wasser. Er hat gelernt, flink über die glitschigen Flöße zu klettern und wie man sie durch enge Flusskurven steuert. "Gleich sind wir da!", sagt Nuru. Tatsächlich! In Fenchuganj wird der Bambus gewaschen, sortiert und zu neuen, noch größeren Flößen verschnürt, bis zu 150 Meter lang und 20 Meter breit! So treibt er, nach 500 Kilometern Flussfahrt, bis in die Nähe von Dhaka.
Für Harun ist das Abenteuer in Fenchuganj zu Ende. Todmüde klettert er in den Bus, der ihn zurückbringt in sein Dorf. Wenn er erwachsen ist, wird er die Floßreise häufiger machen. Doch diese allererste Fahrt - die wird er nicht vergessen.
Bambus: Tausendsassa unter den Pflanzen
1300 Bambusarten gibt es - mal nur einen Meter, mal bis zu 50 Meter hoch, wie ein Baum. Eine Art wächst so schnell, dass man ihr dabei zuschauen kann: Sie schafft bis zu fünf Zentimeter pro Stunde! Zwei Drittel der Bambusarten stammen aus Asien. Manche brauchen tropische Wärme, andere gedeihen in kühlen Bergregionen. Alle gehören zur Familie der Süßgräser. Ihre Halme sind rund, hohl und gleichmäßig dick. Bambus blüht nur alle 60, 90 oder 120 Jahre und stirbt dann ab. Das ist eine Katastrophe für Dörfer wie das von Harun - und auch für den Großen Pandabären, der sich nur von bestimmten Bambusschösslingen ernährt. Die Menschen in Asien bauen aus den stabilen Stangen Hütten, Möbel, Matten, Musikinstrumente und - Essstäbchen. Mit denen wiederum kann man gedünstete Bambussprossen essen. Denn lecker ist dieser Tausendsassa auch.