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Dichter Nebel liegt über dem Meer. Ruder tauchen ins Wasser, bewegen mit langsamen, gleichmäßigen Zügen das Boot. Es ist früher Morgen. Thorleif lehnt müde am Drachenkopf des Bugs. Nässe hängt in seinem rotblonden Bart, im Fell der Mütze und des Umhangs. Er blickt nachdenklich auf sein Gefolge.
Thor rast über den Himmel
Die Frauen und Kinder liegen erschöpft in Decken und lederne Schlafsäcke gehüllt. Es ist kalt und feucht - trotz des über Nacht aufgespannten Zelttuchs. Die Kinder drängen sich Wärme suchend an ihre Mütter. Die Ruderer sind mit ihren Kräften am Ende. Es war eine harte Nacht. Thor - der Gott des Donners - tobte, mit seinem Hammer Blitze schleudernd. Regen stürzte vom Himmel herab, Wind und Wellen zerrten an dem Boot - während die Menschen an Bord sich die ganze Nacht über bis zum letzten verausgabten, um nicht vom Kurs abzukommen.
Als Ende der Welt
Und jetzt verhängt dichter Nebel den Blick auf die Sonne. Kein Lufthauch bläst ihn fort. Das große Rahsegel hängt lasch am Mast. Nur acht Mann an den Rudern, um das voll beladene Boot zu bewegen. Aber auf welchem Kurs, fragt sich Thorleif. Immer noch westwärts? Oder dem Rand der Erdscheibe entgegen? Werden sie am Ende ins Weltenmeer stürzen? In dem schwimmt diese Scheibe, wie die Wikinger glauben.
Die Sonne als Kompass
Vor zehn Tagen haben sie den heimatlichen Sognefjord in Norwegen verlassen, vor vier Tagen die Färöer passiert. Aber würden sie nach den Widrigkeiten dieser Nacht Island noch finden? Der alte Mann am langen, hölzernen Steuerruder weicht Thorleifs bangem Blick aus. Er, der Meereskundige, der "Mann, der den Weg sagt" mit Hilfe seines Sonnenbretts - er ist ohne Sonne ratlos.
Verlockendes Island
Thorleif hat um die Gefährlichkeit der Überfahrt gewusst. Darum, dass viele, die es versucht hatten, Island nie erreichten. Wieder und wieder hatte er in langen Wintern den verlockenden Beschreibungen des neuen Landes gelauscht: von Fjorden, in denen sich die Fische drängelten; von Vögeln, die sich mit der Hand fangen ließen; von saftigen Hochweiden für das Vieh im Sommer und reichlich Erz, um Eisen für Werkzeuge und Waffen zu gewinnen.
Flucht vor Harald Schönhaar
Schließlich hat Thorleif beschlossen aufzubrechen. Um sich nicht weiter Harald Schönhaar beugen zu müssen, der die Häuptlinge unterwarf, um allein über Norwegen zu herrschen. Und er hat seinen Söhnen ein Auskommen und so viel Land verschaffen wollen, wie sie es in Norwegen nicht mehr haben konnten. Thorleifs Söhne würden dem Vater seinen Entschluss danken: Wenn der älteste einmal den neuen Hof auf Island erbte, könnten sich die beiden anderen als seine Knechte verdingen. Oder, wie es Sitte war in Norwegen, ihr Glück auf den Beutezügen im südlicheren Europa suchen.
Mit einem Beutel voll Silber in die neue Heimat
Thorleif denkt an die lange Zeit, die sie zur Vorbereitung der Passage gebraucht haben. Seinen ganzen Besitz hatte er verkauft, damit er das Schiff erwerben konnte, und außerdem fünf Öre Tributt an König Harald entrichten müssen. Geblieben ist ihm ein Beutel voll Silber - für das Leben in der neuen Heimat.
Opfer für die Götter
Er hat nicht vergessen, den Göttern zu opfern, Thor anzurufen, dass die Seefahrt gelingen möge. Zum Julfest hatte er Freyr, dem Gott für den Frieden und die Ernährung, einen Eber geopfert - für reiche Ernte, fruchtbares Vieh und Wohlstand. Schließlich hat er Abschied von Freunden und Nachbarn genommen - dann waren sie in See gestochen: seine Frau Velaug, seine drei Söhne, die Tochter, die irische Sklavin, die von ihm ein Kind erwartet. Thorleifs Bruder Retil hat sich ihnen mit seiner Familie angeschlossen.
Große Verantwortung
Mit Knechten, Mägden, Sklaven sitzen nun 24 Menschen im Boot. Thorleif trägt die Verantwortung für sie alle. Eine schwere Bürde.
Das Vieh ist in der Deckmitte angebunden
Auf sein Zeichen ziehen die Männer die Ruder ein. Thorleif geht zur Decksmitte, wo das mitgeführte Vieh dicht gedrängt vertäut ist; er greift einen Vogelkäfig, und als er ihn anhebt, flattern zwei Raben durcheinander. Ihr Krächzen weckt die Letzten an Bord aus ihrem Schlummer. Jetzt blicken alle auf, angespannt schweigend. Wie vordem schon Floki Vilgerdarson, einer der Entdecker Islands, entlässt Thorleif die Raben. Sie schießen in die Luft, umkreisen den Mast, flattern unentschlossen um das Schiff - doch dann fliegen sie davon.
Raben weisen den Weg
Thorleif lächelt, grinst breit, bis lautes Lachen der Erleichterung aus ihm platzt. Retil und die anderen, Männer und Frauen, stimmen ein. Verwirrt blicken die Kinder auf die lachenden, jubelnden Erwachsenen. Thorleif erklärt: Land liege in der Nähe, sonst wären die Raben an Bord geblieben. Die Vögel seien nach Island geflogen, das Schiff werde ihnen folgen.
Ohne Drachenkopf an Land
Nun ist es an der Zeit, den Drachenkopf am Steven abzubauen, um nicht durch dessen bedrohlich aufgesperrten Rachen die Landgeister zu verschrecken. Denn dann würde kein Segen auf der Landnahme liegen.
Nicht schnell, aber robust
Während zwei der Knechte die Eisennieten aus dem Vordersteven hebeln, die das hölzerne Schnitzwerk halten, betrachtet Thorleif stolz sein Schiff. Es ist keines der schnittigen, schnellen Kriegsschiffe, sondern robust und breit, mit viel Platz für Menschen und Ladung. Ein gutes Schiff: 17 Meter lang, aus einander überlappenden Kiefernplanken. Dieser elastische Bootskörper, dessen Heck und Bug gleich hoch gezogen sind, hält schwerster Dünung stand.
Alles für ein neues Leben
Auf dem Deck stehen riesige Fässer mit Trinkwasser und Proviant. Die Familien haben alles dabei, was sie für ihr Leben im neuen Land brauchen: Saatgut und Pflugscharen, Spaten, Äxte, Schwerter, Wetzsteine, Blasebälge für die Schmiede, Webstühle. Zwei Ponys, fünf Schafe, eine Kuh und ein Ochse sind in der Decksmitte angebunden, Hühner in Kisten verstaut.
Wind kommt auf
Das Zeichen der Raben hat für zuversichtliche Stimmung gesorgt. Allmählich weicht der Nebel, die Sonne ist schon zu spüren. Eine leichte Brise ist aufgekommen, genug Wind, um das große Segel zu füllen. Die Ruderer dürfen sich endlich erholen.
Die Sklavin reicht Thorleif eine Specksteinschüssel mit gesalzenen Fischen und hartem Roggenbrot, dazu einen Holzbecher mit Sauermilch. An den ersten Tagen hat es noch Fleisch gegeben, vorgegart und gepökelt, denn wegen der Feuergefahr wird an Bord nicht gekocht.
Die Jungen toben übers Deck
Die Jungen toben schreiend mit ihren hölzernen Miniaturspeeren über das Deck, der Hund jagt bellend hinter ihnen her. Die beiden Mädchen spielen friedlich mit einem hölzernen Pferd. Zwei der Knechte, die ihren Durst allzu schnell mit Bier gelöscht haben, singen ausgelassen.
Die Mägde schaufeln den Viehmist außenbords. Velaug und Geirhild, die Frau von Thorleifs Bruder, sitzen plaudernd zusammen. Während Geirhild eine Hose für ihren Sohn näht, kämmt Velaug sich die langen blonden Haare. Sie sieht schön aus in ihrem wadenlangen Leinenkleid mit den von Broschen gehaltenen Übertüchern.
"Land in Sicht!"
Der Ruf des alten Mannes reisst Thorleif aus seinen Betrachtungen. "Land in Sicht!" Tatsächlich: Vor ihnen treten die Umrisse einer felsigen Küste aus dem weichenden Nebel hervor. Sie haben Island erreicht, verheißungsvolles Land!
Thorleif denkt an jene, die vor ihm diese Küste erblickt haben. Die ersten waren eine Handvoll keltischer Mönche, die in kleinen Booten aus Leder und Weidenruten ankamen, in "Thule", dem Land, in dem die Sonne nicht untergeht, wenn der Tag am längsten ist. Die Gottesmänner waren längst verschwunden. Von heidnischen Nordmännern erschlagen, versklavt, als Geiseln genommen worden.
Island hieß früher Schneeland
Den Norweger Naddodd verschlugen auf dem Weg zu den Färöern starke Westwinde nach "Schneeland", wie er es nannte. Der Schwede Gardar entdeckte, dass das Land eine Insel war und taufte sie "Gardarsholm". Danach erkundete Floki Vilgerdarson das Eiland und gab ihm angesichts des Treibeises auf den Fjorden schließlich den Namen Island.
Sein Begleiter Thorolf schwärmte, das Gras sei dort so fett, dass Butter von jedem Halm triefe. Ingolf Arnarson aus Norwegen nahm schließlich als erster Land: Nahe warmer Quellen im Südwesten der Insel, in der "Rauchbucht" - Reykjavík - ließ er sich nach dem Willen Thors nieder. Es hieß, die Vorsehung habe Ingolf nach Island geführt.
Eine Kette von Feuerstellen
Inzwischen haben sich Tausende Wikinger auf Island niedergelassen. Aber nur die Ebenen und Täler der Küsten sind fruchtbar - im Inneren besteht die Insel aus Feuer und Eis, aus Vulkanen und Gletschern. Darum dürfen Neuankömmlinge nicht mehr unbegrenzt Land nehmen. So haben es die Führer auf ihrem jährlichen Treffen, dem "Althing", bestimmt: Ein Hof darf künftig nur noch so groß sein, dass ihn eine Kette von Feuerstellen umschließt, die an einem Tag mit einer einzigen Fackel entzündet werden kann. Dabei muss von einer Feuerstelle aus die nächste zu sehen sein. Will eine Frau Land nehmen, so steht ihr soviel zu, wie sie mit einer zweijährigen Färse im Laufe eines Tages abschreiten kann.
Thor soll bestimmen, wo Thorleif wohnt
Wie vor ihm Ingolf Arnarson, so ergreift nun Thorleif einen schweren, mannshohen Holzpfeiler, reich verziert mit verschlungenen Ornamenten und dem Hammer, dem Zeichen Thors. Einst rahmte dieser Pfosten Thorleifs Hausherren-Sessel auf dem eigenen Hof. Jetzt hievt er ihn gemeinsam mit seinem Bruder über die Bordwand am Bug. Dort, wo der Pfahl nach Thors Willen angeschwemmt wird, will Thorleif Land nehmen und sich und den Seinen ein Langhaus aus Grassoden, Torf und Steinen errichten. Dort wird er sich mit dem Segen der Götter niederlassen.