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Titellos (Pheiso 27.03.2008)

An die Wand gelehnt, ein Bein aufgestellt, hob sie die Flöte an die Lippen. Ein einzelner, zaghafter Ton schwebte in den Raum. Sie wartet mit geschlossenen Augen, bis er verhallt war. Der nächste Ton war lauter, gefolgt von einem ganzen Wasserfall an runden, vollen Tönen. Einige Töne hoben sich klar wie Glasperlen in die Luft. Scharfe, schnelle Noten wechselten mit milden, getragenen Läufen. Sie ließ eine Melodie entstehen, den Wechsel aus hohen und tiefen Lauten, kleine Bögen, Töne, die umeinander herumwirbelten. Sie genoß, das Instrument wieder in den Händen zu halten, dieses angenehme Gewicht zu spüren, mit den Fingerspitzen den Luftstrom in der Flöte zu erahnen.

"Maika! Hör mit diesem albernen Gedudel auf! Sofort! Das ist ja nicht auszuhalten! Du wischst hier Staub, und zwar ein bisschen plötzlich!" Der Zauber war sofort verflogen, nicht einmal der Nachhall dieses Glücksgefühls war geblieben. Sihora beherrschte es bis in die Perfektion, einem die Laune zu verderben. Stumm, sich von ihrer Schwägerin abwendend, schraubte Maika die Flöte auseinander, wischte mit einem Tuch über das schimmernde Instrument, schob die einzelnen Teile vorsichtig in die lederne Hülle. Sihora schimpfte noch immer, doch sie hörte nicht mehr zu. Tat, als verstünde sie diese Sprache nicht, was so lange Monate auch wirklich der Fall gewesen war.

Urplötzlich schlugen die Erinnerungen an das Jahr auf sie ein. Die Angst vor diesem Haus, groß, still, dunkel, die Furcht vor seinen Bewohnern. Die Verzweiflung, dass sie die Laute die über die Lippen der anderen nicht zu deuten vermochte, nur am Tonfall ablesen zu können, ob man freundlich, oder wie im Fall von Sihora, ungeduldig mit ihr sprach. "Los, mach weiter, du kannst nicht jeden Tag so herumtrödeln!" Sie hörte eine Tür knallen, und Stille legte sich über das Zimmer. Ihre Kehle zog sich zusammen, sie konnte nicht mehr schlucken, ihre Augen begannen zu brennen. Nicht weinen, nicht weinen! Sie wusste, wenn sie einmal damit anfing, würde sie nicht mehr aufhören können. Das Heimweh durfte nicht schon wieder Besitz von ihr ergreifen. Sie wischte sich über die Augen, mehrmals, immer wieder strich sie mit den alten neue Tränen hervor. Zwei rasche Schritte brachten sie zur Kommode, auf der das Wischtuch lag. Ruckartig fuhr sie über die glatte Oberfläche, als könnte sie ihren Gedanken durch schnelle Bewegungen entfliehen. Sie sah wie durch ein Fenster in eine andere Zeit, sah Hände, so viel größer und abgearbeiteter als die ihren mit einem Tuch über eine raue Holzplatte wischen. Ionela! Sie musste sich an der Kommode festhalten, so sehr schmerzte die Erinnerung. Sie glaubte die raue, unmelodische Stimme von damals zu hören. Merkte nicht, wie sie zu Boden fiel, wimmernd lag sie da. Fühlte sich kraftlos, fühlte sich von der ganzen Welt verlassen.

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