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Sprachlos (Ich.die.Caro 29.06.-11.07.2008)

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Die Fliesen beschlugen, als das heiße Wasser eine Zeitlang aus dem Duschkopf geflossen war. Bald wäre der gesamte Raum voll Wasserdampf und man würde die eigenen Hände vor den Augen kaum noch erkennen. Das Wasser fühlte sich gut an, auf ihrer Haut. Es war befreiend, erlöste sie von allem, machte sie sauber. Sie würde ihr restliches Leben unter einem Wasserfall verbringen, der sie immer wieder rein wusch. Sie stellte sich vor wie die Vögel um die herum zwitscherten und das angenehm kühle Regenwasser ihr den Rücken hinunterfloss. Doch dann kamen die Bilder zurück. Die Bilder, die sie seit es geschehen war, versuchte zu verdrängen. Der Sitz, der Zug, der Fahrkartenkontrolleur, der weiter ging, der hinaus gegangen war. Das beschlagene Fenster, aus dem sie geschaut und die vorbeirauschenden, hell erleuchteten Fenster der rießigen Hochhäuser bewundert hatte, bevor... Die Badezimmertür wurde aufgerissen.

"Lotte? Was machst du denn da? Warum sitzt du in der Badewanne und hast deine Klamotten an?"

Ihre Schwester ging durch das Zimmer und näherte sich langsam dem Wasserhahn. Sie umfasste das kalte Metall und drehte das Wasser ab. Lotte ließ es geschehen, sie rührte sich nicht, sie würde sich nie wieder rühren. Warum auch, es hatte doch sowieso alles keinen Sinn mehr.

"Hey Lotte! Ich bin's Thea, deine Schwester! Hallo? Hörst du mich?"

Thea streckte ihre Hand nach Lottes Schulter aus. Als sie sie berührte durchzuckte es Lotte wie ein Stromschlag. Dort wo die Fingerkuppen ihrer Schwester das nasse T-Shirt berührten wurde es erst kalt und dann heiß. So heiß, als hätte Lotte sich in einen Kochtopf gesetzt. Thea hatte das leichte Zucken ihrer kleinen Schwester nicht bemerkt und stupste sie noch einmal an. Lotte musste die Augen schließen um nicht loszuschreien. Sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Schmerzen gespürt.

"Lotte das ist nicht lustig! Hör auf mit dem Scheiß!"

Die Worte hallten in Lottes Kopf als kämen sie von ganz weit weg. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Krimi. Dort wo immer die Geschwister die Mörder sind. Sie hielt die Augen geschlossen und wollte schlafen. Einfach schlafen und nie wieder aufwachen. In ein weiches Bett fallen, Arme und Beine ausstrecken und träumen. Abermals spürte sie die Hände ihrer Schwester auf ihren Schultern. Sie öffnete die Augen und sah direkt in die von Thea.

"Sag was, Lotte! Komm schon! Sag was!"

Lotte konnte nichts sagen, sie konnte einfach nicht. Und was hätte sie schon sagen sollen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie geredet und jetzt kam es ihr vor als wäre jedes Wort das ihren Mund verlassen hatte sinnlos gewesen. Dummes Gerede über Gott und die Welt, unwichtiges Rumgedruckse! Nichts davon hatte auch nur ansatzweise philosophischen Wert oder Bedeutung für die Nachwelt gehabt.

"Langsam machst du mir Angst! Jetzt sag schon was!"

Wieder wurde Lotte aus ihren Gedanken gerissen. Konnte ihre Schwester nicht einfach mal den Mund halten? Aber das hatte sie ja noch nie beherrscht, das Schweigen. Immer und überall musste sie mitreden, immer musste sie dabei, über alles und jeden informiert sein. Wegen ihr war das doch alles passiert, weil sie immer alles wissen wollte. Sie war schuld, sie ganz allein. Als Lotte die Augen aufmachte, hatte Thea das Zimmer verlassen. Wenige Augenblicke später kam ihre Schwester mit einem Handtuch in der Hand zurück. Sie hatte begriffen, dass es kein Scherz war.

"Du erkältest dich noch! Komm mit in die Küche, ich hab Tee gekocht!"

Eigentlich wollte Lotte gar nicht aufstehen, aber bei dem Gedanken Tee zu trinken, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Thea wusste genau womit sie ihre kleine Schwester locken konnte und zwar mit Tee. Tee war eins der wenigen Dinge auf das Lotte in ihrem Leben nicht verzichten wollte. Lotte fand Tee faszinierend. Es gab so viele verschiedene Sorten und jede davon war einzigartig. Schwarzer Tee macht wach, grüner Tee hilft beim Entspannen und Früchtetee... Früchtetee sei wie die Liebe, hatte Lottes Mutter immer gesagt. Manchmal könne man gar nicht darauf warten ihn zu bekommen und manchmal hatte man soviel davon getrunken, dass man sich vornehme erstmal andere Dinge auszuprobieren. Mit dieser Lebensweisheit im Ohr erhob sich Lotte und folgte ihrer Schwester in die Küche.

Teil 2

Es war mittlerweile Nacht geworden und die Küche wurde nur noch von einer nackten, von der Decke hängenden Glühbirne erleuchtet. Lotte ging bedächtig und langsam, denn sie wollte so wenig Geräusche wie möglich machen. Jedes Knarren der Holzdielen auf dem Boden ließ sie aufschrecken. Die Wohnung war kalt. Lotte hatte sie noch nie gemocht. Es standen nirgendwo Blumen und es gab auch keine Teppiche. Das Einzige was die Wände schmückte waren diese hässlichen, alten Tapeten mit Retromuster. Sie waren vielleicht einmal schön gewesen, aber mittlerweile sahen sie nur noch alt und modrig aus, was vielleicht auch an ihrer braun-beschen Farbe liegen mochte. Lotte, die sich das Handtuch um den ganzen Körper gewickelt hatte ging weiter den Gang entlang an dessen Ende die Küche und somit auch der Tee auf sie wartete. Jeder ihrer Schritte kam Lotte schwer und nutzlos vor, sie hatte das Gefühl sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dann endlich stand sie im Türrahmen. Ihre Schwester saß am Tisch. Es war kein großer Esstisch, wie in ihrer alten Wohnung. Den großen, robusten Eichentisch über den Lotte, als sie klein war, fast nicht hatte darüberschauen können, hatten sie leider verkaufen müssen. Jetzt hatten sie einen kleinen Plastiktisch, der Lotte immer an alte Mafiafilme erinnerte. Es war so ein Tisch an dem die Polizisten ihren Drogenboss stundenlang verhörten und ihm mit so einer Schreibtischlampe direkt ins Gesicht leuchteten und auf dem die Junkies sich ihre Line zogen. Thea saß also an diesem Tisch, vor sich 2 Teetassen aus denen feiner Dampf zur Decke hinaufstieg. Lotte ging quer durch die Küche und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl, der ihrer Schwester gegenüberstand. Sie zog die Tasse zu sich heran und begann zu trinken.

"Pass auf! Der ist doch heiß!"

Thea schaute ihre kleine Schwester entsetzt an, die die gesamte Tasse Tee hinunterstürzte als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Lotte spürte wie die heiße Flüssigkeit ihre Zunge verbrannte und wie erst ihr Hals und dann ihr Magen zu schmerzen begann. Sie konnte genau spüren welchen Weg der Tee durch ihren Körper nahm und es war kein angenehmes Gefühl, aber Lotte hatte kein Problem damit. Es war ihr egal ob es ihr weh tat oder nicht, es war ihr egal. Thea starrte ihre Schwester an und wusste nicht was sie tun sollte. Sie war der Situation eindeutig nicht gewachsen. Ihre Schwester verhielt sich merkwürdig, sie sprach nicht mehr und saß angezogen in der Dusche und Thea hatte keine Ahnung warum.

"Ich bring dich ins Bett! Du schläfst jetzt erstmal und morgen erzählst du mir dann was passiert ist, ok?"

Was immer auch passiert sein mochte, es war der Schock, der ihre Schwester hatte verstummen lassen. Hätte sie sich erstmal ausgeruht, dann würde sich die ganze Situation aufklären, da war Thea sich sicher. Ohne ein Wort zu sagen stand Lotte auf und verließ die Küche. Thea erhob sich ebenfalls und lief ihrer kleinen Schwester hinterher. Von hinten sah Lotte aus wie jemand, der schlafwandelt. Steif und langsam ging sie vor Thea her.

Teil 3

Thea fühlte sich unwohl, als sie so hinter ihrer kleinen Schwester her ging. Hatte sie etwas falsch gemacht? Als ihre Schwester ihre Zimmertür quietschend öffnete, schreckte Thea auf.

"Mensch, die müssen wir auch mal wieder ölen!"

Thea versuchte zu lächeln, doch als sie sah, dass ihre Schwester keinerlei Reaktion zeigte und stur weiter geradeaus blickte, fiel sie wieder in ihren alten Gesichtsausdruck zurück. Es war Thea schon oft aufgefallen, dass die Menschen von Natur aus grimmig schauen, sogar wenn sie entspannt sind. Sobald sie aufhören ihre Mundwinkel anzuspannen, hängen sie leblos nach unten und man hat den Eindruck vor einem steht ein todunglücklicher Mensch. Als Thea aus ihren Gedanken zurückkehrte, lag Lotte bereits zusammengerollt auf ihrem Bett.

"Lotte? Schläfst du?"

Thea ging zum Bett hinüber und kniete sich zu ihrer kleinen Schwester hinunter, sie schlief tief und fest. Thea verließ das Zimmer, die Tür ließ sie offen. Thea setzte sich an den Küchentisch und versuchte den Tag noch einmal durchzugehen, von Morgens bis abends. Was war passiert? Nach einiger Zeit legte auch Thea sich ins Bett, aber schlafen konnte sie nicht. Zu groß war die Aufgewühltheit und das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben.

Sie hätte mehr aufpassen sollen, sie hätte vorsichtiger sein sollen. Egal was passiert war es war ihre Schuld. Ihre Schuld ganz allein. Sie trug die Verantwortung und sie musste damit zurecht kommen. Es war ihre Schuld. Ihre Schuld.

Lotte wachte auf und fand sich in ihrem Bett wieder. Und sofort waren die Bilder wieder da. Das Gefühl. Sie hasste dieses Gefühl. Sie war machtlos, denn sie hatte sich verloren. Was jetzt geschah war nur eine Folge aus ihren Fehlern. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie versuchte an etwas anderes zu denken. Sie musste sich bewegen, aber sie traute sich nicht aufzustehen. Würde sie aufstehen so würde sie es endgültig machen. Sie würde den neuen Tag beginnen und das hieße, sie würde das Geschehene abhaken. Sie konnte nicht, sie wollte nicht. Sie krümmte sich und streckte sich aus und versuchte die Gedanken aus dem Kopf zu schütteln.

Als Thea in das Zimmer kam, lag Lotte sich krümmend auf dem Bett. Sie hatte Tränen in den Augen, doch kein Wort verließ ihre Lippen. Sie schien innerlich zu kämpfen. Thea setzte sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Hüfte und versuchte sie zu beruhigen.

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