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Kurzgeschichte aus "Mein Eckchen" (Pantalaimon 15.07.2008)

Sie stand vor dem Fenster, blickte hinaus. Der Mann, der in der Tür stand, sah ihren schmalen Rücken, bedeckt von den langen schwarzen Locken. Sie stand dort, so aufrecht, so stolz, und er wusste genau, welche Maske ihr Gesicht trug. Eine Maske, die alles verbergen sollte. Sie hatte früh gelernt, ihre Gedanken und Gefühle vor anderen geheim zu halten.

"Wie eine Prinzessin, Lili.", sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Nur das Kleid fehlt."

Sie drehte sich nicht um, doch er wusste, dass auch sie lächelte. Er hörte es an ihrer Stimme, als sie antwortete, auch wenn das, was sie sagte, nicht freundlich gemeint war.

"Sei still. Deine Worte machen es nicht besser." Endlich drehte sie sich um, blickte ihn an aus ihren dunklen Augen. Nichts in ihrem Gesicht verriet, was sie gerade dachte, und doch wusste er es nur zu gut. Er spürte dasselbe, sie wusste es, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte.

"Ich hasse diese Welt.", trotz klang aus ihrer Stimme. "Schau es dir doch an. Sie ist schön, keine Frage. Aber es ist, als betrachtest du alles durch ein Sicherheitsglas. Diese Welt ist ein Museum. Sie stellt sich aus, präsentiert sich, und versteckt dabei ihre Grausamkeit. Doch mit ihrer Grausamkeit versteckt sie auch ihre Schönheit."

Er sah sie an, noch immer das geheimnisvolle Lächeln auf den Lippen. Sie hasste und liebte es zur selben Zeit.

"Fahr fort, Lili. Das hört sich interessant an." Sie wusste nichts und ahnte alles. Es war erstaunlich, wie gut sie sich erinnern konnte, wie sehr ihr kleines Herz sich an einer Sehnsucht zeriss, die es nicht benennen konnte. Es verwunderte ihn immer wieder aufs Neue. "Liest du keine Bücher? Schlag nur eine Seite auf, in dem da" - ihr Kopf ruckte in die Richtung eines Buches in blauem Umschlag - "zum Beispiel, dort versteckt sich die Grausamkeit nicht. In jeder dunklen Ecke findest du sie, die Kranken, die Armen und die Huren. Und glaube mir, dunkle Ecken gibt es viele dort. Es gibt einen reichen König mit reichen Verwandten und viele bitterarme Bauern. Vor der Burg des Königs werden die Leute gehängt, für Dinge, die dich in dieser Welt blos ein wenig Geld kosten. Grausamkeit und Ungerechtigkeit herrscht dort. Aber dafür ist die Welt in diesem Buch auch tausendmal schöner als die, in der wir leben. Die Bäume in den Wäldern sind größer als unsere Hochhäuser, das Wasser der Seen und Flüsse ist nicht verschmutzt von Chemikalien. Es gibt noch Plätze in dieser Welt, die kein Wesen je zu sehen bekommen hat. Und natürlich gibt es Magie. Sie versteckt sich in dieser Welt nicht, genauso wenig wie die Grausamkeit."

Lili stockte. Sie rang nach Atem in der Hoffnung, so die Worte zu finden, die ihr fehlten, doch es half nichts. Verzweifelt sah sie Tristan an. Tristan ... sie mochte den Namen. Ihre Freunde fanden ihn seltsam, doch sie liebte ihn. Er kam ihr so ... vertraut vor. Vielleicht lag es daran, dass er bei ihr war, seit sie klein war. Wie ein großer Bruder, ihr Beschützer, ihr Freund. Als sie klein war, hatte sie oft gefragt, woher er kam. Er hatte ihr nie eine Antwort gegeben, und irgendwann hatte sie es aufgegeben.

Er lachte. "Ich weiß, was du meinst. Komm!"

Sie schaute ihn fragend an, doch sie kam und er legte ihr führend die Hand auf den Rücken. Sie war klug. Und sie war alt genug. Es war an der Zeit, ihr alles zu erzählen.

Sie saß auf der Schaukel, ihr leichter Rock flatterte im Wind. Er stand dort, gelehnt gegen den Pfahl, der die Schaukel stütze und schaute ihr lächelnd zu. Schließlich sprang sie von der Schaukel, stellte sich vor ihn. Er war so viel größer als sie.

"Wo kommst du her?", fragte sie. Sie hatte es oft gefragt, so oft, dass sie keine Antwort erwartete. Doch diesmal öffnete Tristan den Mund, hielt einen Moment inne, doch dann kamen die Worte aus ihm, erst zögernd doch dann immer schneller und bestimmter, dass Lili Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen.

"Du kommst auch daher.", fing er an. "Es ist weit, weit weg, und doch ganz nah. Du erinnerst dich an den Ort, jede Nacht in deinen Träumen und jeden Tag in deinem Schmerz. Die Sehnsucht, die du spürst, ist die Sehnsucht nach ihm. Glaub mir, du hast die Welt so sehr geliebt wie du diese hier hasst."

Sie sah ihn verständnislos an. Natürlich, seine Worte waren wirr, aber wie sollte er das auch verständlich erklären?

"Lili, was meinst du warum dir diese Welt wie ein Museum vorkommt? Was meinst du, warum dein Herz sich nach all der Grausamkeit in den Büchern sehnt, wo dein Verstand doch weiß, dass es in dieser Welt besser ist? Weil dein Verstand in dieser Welt geboren, in ihr groß geworden ist, doch dein Herz sich an eine andere erinnert.

Wie eine Prinzessin, Lili.

Denn das warst du. Das bist du." Er hielt kurz inne, wartete, bis er meinte sie hätte ihn verstanden und dann fuhr er fort. "Wir lebten in einer anderen Welt. Du warst die Prinzessin, die Thronfolgerin, die Tochter eines sehr mächtigen Königs. Ich war dein Leibwächter, dein Vater hatte großes Vertrauen in mich. Es schien alles so perfekt, abgesehen von der Hungersnot, die gerade durchs Land rollte wie eine vernichtende Welle und dem Krieg, mit dem der Erzrivale deines Vaters drohte. Eines Tages allerdings kam eine Hexe auf die Burg deines Vaters. Sie war schrecklich aufgewühlt und man dachte zuerst, die Magie sei ihr zu Kopfe gestiegen, doch schließlich entlockte man ihr einige vollständige Sätze und ließ deren Inhalt von anderen bestätigen; Es gab eine Welt, die dieser glich wie ein Zwilling und sich doch so sehr von ihr unterschied wie der Tag von der Nacht. Wir wussten nicht, ob es nur diese eine Welt gab, schließlich wussten wir bis vor kurzem nicht einmal von dieser einen. Es konnte also gut sein, dass es noch weitere gab, aber das interessierte uns nicht. Diese eine Welt war eine Parallelwelt. Würde sie zerstört, würde das gleiche mit unserer geschehen. Und die Hexe hatte gesehen, dass die Menschen in dieser Parallelwelt auf gutem Wege waren, eben diese zu zerstören." Er holte kurz Luft und blickte das junge Mädchen vor ihm an. "Du siehst, wie sie sie zerstören.", sagte er.

"Die Hexe erklärte deinem Vater, dass die Menschen dort wohl kaum bemerken würden, was sie taten, und wenn, dann zu spät. Also fragte dein Vater, was er tun konnte, und die Hexe antwortete, er müsse jemanden in diese Welt schicken um die Menschen dort zu warnen. Und um diese und unsere Welt zu retten. Es brach deinem Vater fast das Herz, aber er wusste, dass du die einzige warst, die dies vollbringen konnte. Weil du schlau bist, Lili. Ich habe weder in dieser noch in der anderen Welt einen Menschen getroffen, der schlauer ist." Wieder hielt er inne, um nach den richtigen Worten zu suchen.

"Nun, Lili, so ist es gekommen, dass du hier bist. Glaub mir, es war ein mächtiges Ritual, doch sie haben es geschafft. Mich haben sie mit dir geschickt, allerdings auf eine andere Weise. Du wurdest neugeboren in dieser Welt, ich bin herüber gewandert mit all meinem Wissen und meinen Erfahrungen. Um dich zu beschützen, um dir zu helfen, und um dir alles zu erklären."

Lili sah ihn mit großen Augen an. Plötzlich machte so vieles Sinn. Der Schmerz, die Sehnsucht, der Hass. Die Fremdheit zu dieser Welt und die Vertrautheit zu denen aus einigen Büchern, obwohl ihr Verstand ihr immer sagte, diese sei richtiger, gerechter.

Weil dein Verstand in dieser Welt geboren, in ihr groß geworden ist, doch dein Herz sich an eine andere erinnert.

Sie wollte ihm so gerne glauben. Prüfend sah sie in seine Augen. Es klang so wahr, so richtig, was er sagte. Und doch, konnte es denn etwas anderes als eine schöne Geschichte sein? "Lili, du weißt genau, dass ich ein mieser Geschichtenerzähler bin.", antwortete er ihr auf die unausgesprochene Frage. Er kannte sie besser als jeder andere. Immerhin sieht er dich schon zum zweiten Mal groß werden., sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf.

Und wenn es nicht stimmte?, fragte sie sich trotzig. Was sollte dann sein? Dann hatte sie sich halt geirrt, es würde nicht mehr als ein kleiner Ausflug in eine Traumwelt sein. Doch wenn all das stimmte, was Tristan ihr erzählt hatte ... dann würden zwei Welten sterben, bloß weil sie sich nicht getraut hatte, die Wahrheit zu glauben.

"Wie?", fragte sie mit entschlossener Stimme.

Er lächelte. Sie hatten die richtige ausgewählt.

"Prinzessin!", sagte er und hielt ihr auffordernd die Hand hin. "Folgt mir, ich zeige euch den Weg!"

Lächelnd ergirff sie Tristans Hand. Tristan ... der Name kam ihr so vertraut vor. Ihre Freunde fanden ihn seltsam. Jetzt wusste sie warum.

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