Sie hebt den Fuß. "STOPP!" Verwundert dreht sie sich um. Ein bärtiger alter Mann steht vor ihr und beginnt auf sie einzureden. "Was passiert, wenn auf dem Fleckchen Wiese, das du gleich betrittst, eine Biene sitzt? Klar, sie wird dich stechen. Dein linker Fuß wird anschwellen und du wirst mit Krücken zur Arbeit gehen müssen. Du wirst etwas später als sonst ankommen und allein in den Aufzug steigen. Deine Krücke wird im Spalt unter der Aufzugtür stecken bleiben, und weil du eben allein im Aufzug sein wirst, wirst du selber zusehen müssen, wie du sie wieder rausbekommst. Beim Rausziehen wird vielleicht dein Verband in der zugehenden Aufzugstür festklemmen und sich mit den Aufzugseilen verheddern. Du wirst festklemmen, der Aufzug wird festklemmen, und schließlich muss die Feuerwehr den Aufzug völlig zerstören, um dich mehr oder weniger heil herauszubekommen.
Dein Chef wird ziemlich sauer auf dich sein und die mehreren tausend Euro, die ein neuer Aufzug kostet, von deinem Gehalt abziehen. Bis der Aufzug abbezahlt ist, musst du über ein Jahr lang von einem Minimallohn leben und kannst deine Wohnungsmiete nicht bezahlen. Du wirst aus deiner Wohnung geworfen werden und umziehen müssen. Allerdings läuft dein Arbeitsvertrag noch ein paar Monate lang, und von deinem Restlohn kannst du gerade noch das Nötigste zahlen und keine Wohnungsmiete, also musst du vorerst in ein Obdachlosenheim ziehen. Dein Arbeitsvertrag wird, wie erwartet, nicht verlängert, aber du findest keine neue Stelle. Künftig lebst du also von Hartz IV in einem Billigwohnviertel."
"Ach, und wenn ich einfach stehen bleibe?"
"Vielleicht albert der Freund, mit dem du dich treffen willst, gerade herum und singt irgendein komisches Lied. Ein berühmter Produzent wird ihn hören und einen Star aus ihm machen, dabei kannst du viel besser singen! Doch die Chance deines Lebens ist vertan, und du wirst deinen Freund künftig auf MTV krächzen hören."
"Ähm, eigentlich hab ich nicht vor, Sänge.."
"Ach so, du singst nicht gern? Du schreibst lieber? Vielleicht trifft dein Freund ja einen Verleger, dem er einen deiner Texte als seinen eigenen vorträgt, um ihn zu beeindrucken. Der Verleger ist begeistert, dein Text wird unter dem Namen deines Freundes veröffentlicht und ein Bestseller. Dein Freund wird reich und berühmt, und alle weiteren Texte von ihm werden sich, egal wie schwachsinnig, unlogisch und langweilig sie sind, blendend verkaufen, nur weil sein Name draufsteht. Die Chance deines Lebens ist vertan, und du wirst deinen Freund künftig im Fernsehen vorlesen hören. Aber komm bloß nicht auf die Idee, jetzt loszurennen, um schneller dazusein! Vielleicht befindet sich auf deinem Weg eine Schlammpfütze. Weil du es so eilig hast, wirst du sie übersehen und mit dem Gesicht hineinfallen. Dein Gesicht wird schlammverschmiert sein und während du es abwischen wirst, wird vielleicht die Liebe deines Lebens an dir vorbeigehen, ohne dass du sie bemerkst. Du wirst ihr nie wieder begegnen. Du wirst dein Dasein als Single fristen und eines Tages einsam, allein und kinderlos sterben."
"Für wen halten Sie sich eigentlich? Sind Sie Murphy oder was?" fragt sie empört. Murphy, der Begründer der Chaostheorie, ist der einzige Name, der ihr auf Anhieb einfällt. Der alte Mann geht nicht weiter darauf ein und fährt in seiner Argumentation fort. "Wenn du mich eine Millisekunde zu lang anstarrst wie einen dreiköpfigen Hund, wirst du das Motorrad, das vielleicht auf dich zurasen wird, zu spät bemerken. Du wirst angefahren werden und dir einen Wirbel brechen. Also wirst du den Rest deines Lebens als Querschnittsgelähmter im Rollstuhl verbringen. Oder du drehst dich in letzter Sekunde um, springst zurück und fällst rückwärts in diese Mülltonne da. Um sie herum schwirren ziemlich viele Wespen, und leider merkst du zu spät, dass du auf Wespenstiche hoch allergisch reagierst."
"Ich werde also als arbeitsloser Single im Rollstuhl in einer Sozialwohnung in einem Billigviertel wohnen, dessen bester Freund zu Unrecht berühmt ist, habe ich das richtig verstanden?" spottet sie. "Nein," antwortet der Alte ernsthaft, "nicht unbedingt, aber es könnte durchaus soweit kommen." "Ah ja. Und wenn da keine Biene ist?" Fragt sie herausfordernd. Der Alte zuckt die Schultern. "Dann trittst du eben in keine Biene. Stattdessen knickst du vielleicht beim nächsten Schritt mit deinem rechten Fuß um und verstauchst ihn dir. Läuft auf?s Gleiche raus: Du gehst an Krücken in die Arbeit und endest als Sozialhilfeempfänger." "Vielleicht wird mein Arbeitsvertrag ja doch verlängert, dann bekomme ich keine Sozialhilfe." "Dann wirst du stattdessen bei der nächsten Sparmaßnahme gefeuert, weil du sowieso nur Ärger machst, jedenfalls mehr als die anderen."
"Das klingt ja so, als wäre es mir vorherbestimmt, als Sozialhilfeempfänger zu leben," spottet sie, "aber soweit ich weiß, ist es völliger Zufall, ob da eine Biene ist oder nicht, ob ich wegen der Biene als Obdachloser ende oder nicht, ob ich meine große Liebe finde oder nicht, ob.." Er unterbricht sie: "Und ich zeige dir ein paar von diesen Zufällen. Du könntest auch auf der nassen Wiese ausrutschen, dich an einem Kinderwagen festhalten, den Wagen umkippen und so landen, dass das Baby im Wagen bleibt, dieser dir aber ins Genick fällt. Dann endest du nicht irgendwann als Obdachloser in Berlin, sondern jetzt und hier als Unglücksrabe." "Da ist die Bienentheorie ja noch realistischer..." murmelt sie und setzt endlich ihren Fuß ab. Nichts passiert. Sie grinst den alten Mann triumphierend an. "Sehen Sie!" Sie geht den nächsten Schritt. Plötzlich spürt sie einen brennenden Schmerz im rechten Fuß: er ist umgeknickt.