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Raphaels Geschichte (Wolfsreiter, 08.11.2006)

1. Teil: Hass

„Mutter! Mutter!“ Der Junge kam mit rot glühenden Wangen in die spärlich eingerichtete Hütte gerannt und hätte beinahe seine Mutter Ariena umgeworfen, die gerade versuchte, eine zerbrochene Tonschale wieder zusammenzusetzen. „Uah!“, rief er erschrocken, sie ließ die Schale fallen und fing ihn behände auf. Er strahlte sie aus hellbraunen Augen an. „Vater ist zurück! Yailana! Vater ist zurück!“ Damit rannte er wieder los. Ariena lächelte, hob die Scherben auf und legte sie auf den Tisch, dann trat sie zu Tür, um ihren Mann zu begrüßen. Ihr Sohn Rorath und dessen Schwester Yailana rannten den Weg aus dem Dorf ihrem Vater entgegen. Er löste sich aus einer Gruppe Krieger, die ebenfalls nach einem Jahr Kriegsdienst zu ihren Familien zurückkehrten, und schloss die beiden Kinder in die Arme. Die anderen Soldaten begrüßten derweil überglücklich ihre eigenen Familien. „Rorath, du bist groß geworden in einem Jahr!“, lachte Jakob und fuhr dann Yailana durchs Haar. „Und du bist ein Riese!“

„Stimmt, ich bin größer und stärker als er“, bestätigte sie und streckte ihrem Bruder die Zunge raus. „Jetzt Schluss, ihr zwei!“ Jakob lächelte und richtete sich auf. „Eure Mutter ist dran.“

Auf halbem Weg hielt er inne. Sein Lächeln verblasste. „Ariena …“ Er trat einen Schritt auf seine Frau zu, in der Hoffnung, sie in die Arme schließen zu können, so wie sie es das letzte Mal vor einem Jahr getan hatten, in der Hoffnung, ihr ein Lächeln oder doch wenigstens Worte zu entlocken. Doch sie rührte sich nicht. Er suchte ihren Blick.

„Es tut mir Leid, Ariena. Erinnerst du dich nicht?“ Er tat noch einen Schritt und brach damit die abweisende Mauer, die sie umgab. Ariena stieß einen halb erstickten Schrei aus und fiel Jakob in die Arme. „Jakob! Endlich! Ich habe so lange gewartet!“

Er küsste sie und lächelte, erleichtert darüber, dass sie letztendlich doch nicht abweisend reagiert hatte. „Ich war lange fort. Ich weiß.“ Und fügte hinzu, nachdem sie sich beruhigt hatte: „Aber ich bin auch früh wieder zurück. Sag mal, wo sind Yargar und Raphael?“

„Sie sind drüben bei der Schlucht und üben fechten. Daran bist nur du Schuld! Du hast es doch früher auch immer mit ihnen gemacht und sie meinen, es würde sie an dich erinnern.“ Sie lachte. „Wäre es dann nicht an der Zeit, dass sie ihre Geschwister mitnehmen?“ „Du kennst sie doch. Außerdem hat Rorath neulich Raphael die Säbel geklaut und damit Katzen gejagt.“ Diesmal lachten sie beide. „Ja! Und ich hab … keine gekriegt.“ Rorath zog ein Gesicht. „Aber fast!“ „Kleiner Bastard!“, knurrte Jakob und stieß ihm spielerisch vor die Brust, sodass er auf den Hosenboden fiel und seinen Vater erschrocken ansah. Dann grinste er wieder. „Mutter?“ Yailana berührte sie leicht an der Schulter. „Vater, wer sind diese Männer dort? Soldaten?“ Sie deutete auf die Gruppe, die sich dem Dorf näherte. Hunde schlugen an. Jakobs Miene verfinsterte sich. „Yailana, nimm deinen Bruder und geh ins Haus. Und bleib dort.“ Er wandte sich zu Ariena um, doch sie sagte bestimmt: „Ich bleibe.“ „Was wollen die denn von uns?“, fragte Rorath neugierig. „Nichts Gutes, Rorath.“ Jakob griff nach seinem Schwert. „Nichts Gutes.“

„He! Pass auf, wo du hinschlägst!“ Yargar verzerrte das Gesicht vor Schmerz, als sein gleichaltriger Bruder Raphael ihm das Schwert aus der Hand prellte. „Warte!“, keuchte er. Raphael grinste hinterhältig und setzte nach, schwang beide Säbel und ließ sie auf seinen Bruder zuschnellen. Dieser riss das Schwert wieder in die Höhe und fing den Schlag ab, parierte zwei weitere und griff dann seinerseits an. Raphael fegte den Stoß beiseite und schlug dann mit den Säbel wuchtig von oben zu. Yargar ging in die Knie, was von der Kraft seines Bruders zeugte, und wollte gerade zutreten, als Raphael sich umdrehte, seine Säbel einsteckte, behände wie eine Katze auf einen Felsen kletterte und dort oben stehen blieb. Der Wind strich ihm die bis auf die Ellbogen reichenden, pechschwarzen Haare, die er sich mit einem Stirnband aus dem Gesicht geschoben hatte. Raphael sah seinem Bruder ähnlich, doch er hatte von seiner Mutter die giftgrünen Augen geerbt, während Yargars Augen so braun wie sein Haar waren. Trotzdem sah man ihnen an, dass sie Brüder waren und beide Halbdämonen: Ihr Vater war ein Mensch und ihre Mutter eine Dämonin. Raphael konnte bis zum Meer blicken, und er sah ihr kleines Dorf. Und er sah, dass etwas nicht stimmte. „Yargar! Was siehst du?“, rief er seinen Bruder, ohne ihn anzusehen. „Nicht ein, dass du einfach feige aufgibst! … Was ist denn da los? Sind das Soldaten?“ Yargar steckte schwungvoll das Schwert ein und runzelte die Stirn. „Nur ein Weg, das herauszufinden. Beeilen wir uns lieber“, sagte Raphael beunruhigt.

„Du wirst auch mit uns kommen!“ Der bewaffnete Soldat deutete auf den Jungen, der neben seiner Mutter stand. Das Kind wich eingeschüchtert vor ihm zurück.

„Bitte, lasst ihn hier, Herr!“, rief seine Mutter verzweifelt, doch der Soldat fuhr sie nur an: „Wollt Ihr, dass euer Sohn die Gelegenheit bekommt, ein Krieger zu werden und nicht wie ihr armen Siedler hier ein elendiges Dasein zu fristen, das so viel besser aussehen könnte?! Wir nehmen ihn später mit.“ Damit ging er weiter und ließ den Jungen und seine Mutter zutiefst verwirrt zurück. Die Krieger waren gekommen, um Jugendliche und Kinder für den Kriegsdienst aus den Dörfern zu holen. Sie trugen das Zeichen Môrcradems: Der Schatten einer Schlange auf dunkelgrünem Stoff, das Maul weit aufrissen und spitze Zähne zeigend, und darüber quer verlaufend drei Linien wie Narben. Môrcradem war eine der stärksten und gefürchtetsten Mächte des Landes.

Ein Krieger fiel besonders auf; er war offenbar der Truppführer, nach den dunkelroten Stoffstreifen, die er an beiden Unterarmen trug, zu schließen. Sie waren ein Zeichen eines höheren Ranges, obwohl er die gleichen Kleider wie seine Soldaten trug. Der Mann, begleitet von zwei weiteren an seiner Seite, kam wie beiläufig zur letzten Hütte am Rande der Siedlung. Sein Anblick jagte Ariena einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie spürte Angst in sich hochsteigen, die sie nicht kannte. Er war groß und schlank, hatte breite, kräftige Schultern und einen entschlossenen, raschen Gang, der entfernt an ein Raubtier erinnerte, und die langen, flachblonden Haare trug er zurückgebunden. Der Krieger trug zwei Schwerter bei sich, ein mächtiges Großschwert auf den Rücken gebunden und ein Langschwert am Gürtel. Doch das eigentlich Erschreckende waren seine Augen und der Ausdruck darin: Azurblau, so eisig wie der stechende Frost im Winter und grimmig wie die Kälte.

Er blieb vor Jakob stehen und sie sahen einander offen feindselig an. „Was wollt Ihr?“, fragte Jakob ihn schließlich unfreundlich. „Das wisst Ihr genau!“ Einer der Männer neben dem Truppführer, der sich auf eine brutal aussehende Lanze stützte, deutete auf Rorath, der hinter seiner Mutter in der Türöffnung stand. „Nein! Niemals!“ Ariena packte ihn und zog ihn hinter ihren Rücken. Yailana, die neben ihrem Bruder stand, griff nach dem langen Jagdmesser, dass neben dem alten Schwert ihrer Mutter an der Wand lehnte, doch der andere Mann hatte es bemerkt, bevor sie es heben konnte. „Denk nicht mal daran, sonst kommst du auch mit!“, schnauzte er sie grob an. Sie starrte wütend zurück. „Und jetzt gebt uns endlich den Jungen!“ Er drehte sich zu Jakob um und grinste höhnisch. „Oder, was Ihr sicher nicht wollt … ich muss ihn mir mit Gewalt nehmen.“ „Ihr werdet nichts dergleichen tun!“ Ariena sah ihn hasserfüllt und angewidert an. Er betrachtete sie wie einen wertlosen Gegenstand, der es nicht wert war, dass man ihm noch weiter Beachtung schenkte, sondern ihn einfach zerschlug, und gleichzeitig musterte er ihr schlankes, hübsches Gesicht, aus dem Wildheit und Härte sprachen, mit unverholener Begierde. Das lange, hellbraune Haar fiel ihr lockig über die Schultern. In diesem Moment riss Rorath sich aus ihrem Griff los und zog das Messer aus seinem Gürtel. Es funkelte im grauen Tageslicht. Selbst in den Händen des Jungen würde diese Klinge töten können. „Rorath! Komm zurück!“

„Huah!“ Der Junge stieß einen Schrei aus, ließ das Messer zischend durch die Luft sausen und sprang vor seine Mutter, wie um sie zu beschützen. „Gib mir das“, sagte plötzlich der Truppführer mit eisiger Stimme, und streckte die Hand nach der Waffe aus. „Jetzt.“ Als Rorath nicht gehorchte, trat er bedrohlich einen Schritt auf ihn zu.

„Nein! Lasst ihn in Ruhe!“ Jakob hatte sein Schwert schon halb aus der metallbeschlagenen Scheide gezogen, als die Soldaten ihn packten und zurückzerrten. Er schrie wutentbrannt auf und riss sich los, doch er hatte nicht einen Schritt getan, als sich die lange, schmale Klinge eines Dolches an seine Kehle legte. Jakob erstarrte. In seinen Augen loderte ein Feuer.

„Wag es nicht!“, schrie Rorath, hob sein Messer und sah den Truppführer an. „Sonst töte ich ihn!“

Der Mann lächelte kalt und spöttisch, auf eine fürchterliche, grausam wissende Art, die Ariena Angst machte. Die Soldaten lachten. Inzwischen hatte sich eine kleine Menschenmenge Krieger und Dorfbewohner versammelt, die das Geschehen gespannt verfolgten. Der Truppführer drehte sich um und ließ den Blick ausgiebig über die Anwesenden schweifen. „Ihr wisst hoffentlich alle, dass ich jeden, der mir seine bereitwillige Hilfe verweigert, töten muss?“ Schweigen antwortete ihm. Ein Kind begann zu weinen. Der Truppführer wandte sich desinteressiert ab und sah Rorath an. „Du willst also der erste sein?“ „NEIN!“, riefen Jakob und Ariena gleichzeitig entsetzt. Rorath sah den Truppführer an. Sein Blick huschte gehetzt hin und her, und suchte einen Ausweg. Dann warf er das Messer. Yailana schrie. Der Mann jedoch hob fast beiläufig die Hand und schlug die scharfe Waffe mit dem schweren Handschuh, den er trug, beiseite.

Sie sahen einander an. Die Augen des Kriegers funkelten, dann trat er abrupt einen Schritt vor und packte Rorath mit der rechten Hand. Der Junge heulte auf und schlug wild um sich, doch der Griff war zu eisern, als dass er sich daraus hätte loswinden können. „Rorath, nein!“, schrie Ariena verzweifelt, als der Truppführer nach seinem Schwert griff. Yailana drückte ihr ihre eigene Waffe in der Hand und die junge Kriegerin hatte es schon erhoben, als sich jemand grob den Weg durch die Menge auf den Platz bahnte. Zwei Säbelklingen legten sich in den Nacken des Mannes, der Rorath gepackt hielt. „Lasst ihn los“, sagte Raphael bedrohlich leise und fügte finster hinzu: „Sofort.“ Dann geschah alles gleichzeitig. Der Truppführer schleuderte Rorath mit einer brutalen Handbewegung zur Seite, tauchte leichtfüßig unter den Säbeln hinweg und zog sein Schwert aus der Scheide. Raphael sprang zurück und wich dem Schlag aus, geriet ins Taumeln und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment fand er festen Stand und parierte den nachgreifenden Hieb.

„Wer bist du, der es sich erlaubt, sich einzumischen?“, rief der Truppführer und sagte an seine Soldaten gewandt: „Er gehört mir! Bleibt weg!“ „Der Bruder dieses Jungen!“, knurrte Raphael, „und ich werde nicht zulassen, dass Ihr ihn umbringt!“ Yargar hatte ihm inzwischen Deckung gegeben, indem er jeden mit gezogenem Schwert im Kreis zu bleiben hieß.

„Wie rührend“, höhnte der Krieger und zog sich einen Schritt zurück. Der Halbdämon folgte ihm, sodass sie einander wieder in der Ausgangsstellung gegenüber standen. Ein eisiges Lächeln huschte über das Gesicht des Menschen, und er trat wieder einen Schritt zur Seite, doch diesmal folgte Raphael ihm nicht.

Der Truppführer lachte freudlos auf. „Dann lass dein Schwert sprechen!“, rief er, wirbelte seine schimmernde Waffe mit einer schnellen Bewegung durch die Luft und hielt sie dann seinem Gegner entgegen. „Na los, Mischling.“ Raphael griff zuerst an. Die Klingen seiner Säbel durchschnitten mit einem scharfen Sirren die Luft, krachten Funken sprühend auf Stahl. Der Halbdämon rang nach Luft, fasste sich wieder und ein schnellen Schlagabtausch zwang den Truppführer etwas zurück, doch seine Wut gewann schnell die Oberhand. Er schlug Raphael mit einem wuchtigen Hieb beide Säbel aus der Hand und setzte nach, um ihn niederzustrecken, doch der Halbdämon duckte sich flink weg und trat ihm in den Magen. Der Krieger wurde mit voller Wucht gegen eine Hauswand geschmettert. Stöhnend richtete er sich nach einem kurzen Moment wieder auf, und griff dann mit einem wutentbrannten Schrei erneut an. Doch bevor er Raphael auch nur erreicht hatte, stand Yargar zwischen den beiden. Hass lag in der Luft.

„Man sieht, dass ihr beide Brüder seid“, keuchte der Krieger bemüht ruhig zu bleiben. „Geh mir aus dem Weg, Drecksblut!“ Yargar blieb unbeeindruckt stehen. „Geht Ihr von hier.“ „Das einzige, was wir wollen ist, dass Ihr von hier verschwindet, die Kinder hier lasst und nie wieder zurück kommt!“, presste Raphael wütend hervor. Einzig eisiges Schweigen antwortete ihm einige Momente lang. „Ihr habt ihn gehört. Wir gehen“, rief der Truppführer unerwartet und schob sein Schwert zurück in die Scheide. „Die Kinder nehmen wir ein anderes Mal mit.“ Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Die Soldaten begannen, das Dorf zu räumen, doch bevor er ging, drehte sich der Krieger noch einmal zu Raphael um. „Wir sehen uns wieder, Mischling“, sagte er laut genug, dass alle Anwesenden es hören konnten, „es war mir eine Ehre, mit dir zu kämpfen.“ Er verbeugte sich spöttisch. „Bevor es dämmert, sind wir hier fort!“, rief er seinen Soldaten zu. Damit war es entschieden.

Er sah Raphael lange an, und der Blick des jungen Halbdämons sprühte vor Hass. Der Truppführer hob beiläufig die Hand mit dem schweren, gepanzerten Handschuh und betrachtete sie, als wäre sie sehr interessant, dann schlug er Raphael direkt aus der Bewegung mit unbändiger Wucht den Handrücken ins Gesicht. Rorath schrie auf, als sein Bruder von dem Schlag völlig überrascht in die Knie ging. Blut strömte über sein Gesicht. Yargar setzte an, den Truppführer anzugreifen, doch stattdessen sank er neben seinem bewusstlosen Bruder zu Boden und wartete, dass die Menge sich endlich zerstreute.

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