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Es dämmert. Ben reckt seine spitze Nase in die kühle Herbstluft. Die Barthaare des jungen Waschbären zittern vor Anspannung: Mmmh, wie das duftet! Vor ihm auf der Wiese steht ein Korb voller Äpfel - und kein Mensch weit und breit. Wie ein lautloser Schatten eilt das Tier im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit aus seiner Deckung im Gebüsch. Geschickt zieht sich der Bär am Korbrand hoch, packt einen knackigen Apfel und...
Doch kein Abwaschen?
Moment mal, sollte Ben das Obst nicht erst waschen? Er ist doch ein Waschbär! Heißen die Tiere nicht so, weil sie ihr Futter erst einmal abspülen, bevor sie sich damit den Bauch vollschlagen? Doch der kleine Bär mit dem Puschelschwanz sitzt seelenruhig da und futtert einfach drauflos.
Hoch entwickelter Tastsinn
Tatsächlich hatten die Forscher bis in die 1970er Jahre ein falsches Bild von den putzigen Tieren: In Gefangenschaft "waschen" Waschbären zwar alles, was ihnen in die Finger kommt; da würden sie wohl auch einen Apfel in ihrem Wassernapf hin- und herschwenken. Aber das ist für die Tiere bloß ein Ersatz für eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, der sie im Zoo nicht nachgehen können: an Bachufern und Seerändern zu hocken und im seichten Wasser herumzufingern. Dank ihres hoch entwickelten Tastsinns ergattern Waschbären auf diese Weise die feinsten Leckerbissen - Krebse, Larven und sogar kleine Fische.
Eigentlich wäre also "Tastbären" der bessere Name. Bei den nordamerikanischen Algonquin-Indianern heißt das Tier "Aroughoun": "Der-mit-den-Händen-kratzt".
Natürliches Fluchtverhalten
Plötzlich geht im nahen Haus ein Licht an, jemand tritt vor die Tür. Ben hält inne, duckt sich. Ein Mensch! Jetzt heißt es rennen, was das Zeug hält. In null Komma nichts ist der Bär im Dickicht verschwunden; die empörten Rufe des Obstbauern verhallen im Dunkel. Dieses Fluchtverhalten musste Ben, wie vieles andere, erst mühsam lernen - von einem Menschen!
Bens Lehrer waren Menschen
Ben ist ein Waisenkind. Eine Wissenschaftlerin hat ihn und seine Geschwister mit dem Fläschchen aufgezogen. Sie hat mit ihnen gespielt, hat ihnen gezeigt, wie man in der Natur fischt, wie man leckere Himbeeren findet. Und dass man sich ins Gebüsch ducken muss, wenn ein gefährliches Auto naht. Noch vor 70 Jahren waren Waschbären bei uns genauso wenig zu Hause wie eine Giraffe. Dann hat ein Tierliebhaber in Hessen zwei Waschbär-Pärchen in die Natur entlassen, andere flohen aus Pelztierfarmen.
Ideale Lebensbedingungen
Das waren nicht gerade viele, doch weil auch das Klima stimmte, weil es zudem das richtige Futter gab und kaum natürliche Feinde, konnten sich die Nachkommen schnell verbreiten: Heute leben in Deutschland einige hunderttausend Waschbären. Schon mit einem Jahr können die Weibchen Junge bekommen, Männchen suchen sich meist erst nach zwei Jahren eine Partnerin.
Waschbären in Kassel
Mittlerweile machen sie es sich sogar schon in den Städten bequem. In Kassel etwa klagt mancher Hausbesitzer über unerwünschte Untermieter. Die Bären plündern Mülltonnen, sie nisten sich auf Dachböden ein und gründen dort Familien. Ben aber weiß nichts vom Leben in der Stadt. Auch für Nachwuchs ist er noch zu jung. Ihn interessiert nur eines: Fressen! Vor allem, bevor die kalte Jahreszeit kommt.
Viel fressen für den langen Winter
Waschbären halten zwar keinen richtigen Winterschlaf, aber wenn's draußen kalt ist, ruhen sie wochenlang in schützenden Höhlen. Eine Radikal-Diät: Sie verlieren dabei bis zur Hälfte ihres Gewichts. Ben muss sich bis dahin noch eine ordentliche Speckschicht anfressen. Am nächsten Tag wird er nachsehen, ob der Obstkorb noch da steht.