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Was Sigmund Freud wohl dazu sagen würde? Kann man eine ganze Gesellschaft auf die Couch legen und analysieren wie einen einzelnen Patienten? Ihr Unterbewusstsein anzapfen? Uneingestandene Ängste und verdrängte Kränkungen ans Licht holen und fruchtbar machen für die weitere Entwicklung? Die Hamburger Körber-Stiftung lässt sich auf dieses Experiment ein. Sie will wissen, wie die Deutschen tief im Inneren reagieren auf das, was in den Medien gern "Überalterung" genannt wird, und sie hat ein Psychogramm in Auftrag gegeben: die Studie "Alter: Leben und Arbeit", gewonnen aus 205 Tiefeninterviews. Die Stiftung hat sich bundesweit einen Namen gemacht als Impulsgeberin für gesellschaftliche Themen. So lädt sie junge Europäer ein, die "Demokratie zu beflügeln", und lobt hoch dotierte Studienpreise für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus. Und sie hat die Losung "Alter neu erfinden" geprägt und organisiert jährliche Tagungen, in denen sie internationale Pionierprojekte wie die "City for All Ages" Edinburgh vorstellt. Dabei tauchen Gruppen jenseits der 60 nicht als "tickende demografische Zeitbomben" auf, sondern als Mitgestalter in einem Umfeld, in dem sie sich wertgeschätzt fühlen. Doch so ein Umfeld zu schaffen benötigt Nachhilfe. "Der demografische Wandel fordert von allen viel Veränderungsbereitschaft", sagt Lothar Dittmer, Mitglied des Vorstands der Körber-Stiftung. Von der Untersuchung hofft er zu erfahren, "wo die Ängste und Erwartungen liegen, wo der Einzelne abgeholt werden muss". Deshalb die "Tiefenbohrung in die deutsche Seele". Die Rolle des Sigmund Freud hat Peter Kruse inne, Experimentalpsychologe und Gründer der Beratungsfirma Nextpractice in Bremen. Mit weißem Rauschebart und wissenden Augen hinter seiner randlosen Halbbrille kultiviert er die Aura eines Magiers. In der Kundenliste seiner Firma drängeln sich DAX-Konzerne wie BASF, Daimler oder VW, aber auch Organisationen wie die Zeit-Stiftung und Greenpeace. Kruse kann seine Zuhörer schwindlig reden, wenn er im Eiltempo große Bögen von Neurophysiologie zu gesellschaftlichen Wertemustern spannt und vom "sozialen Gehirn" spricht, in dem der Einzelne ein "Messpunkt" sei. Auf dieses soziale Gehirn zielt Kruses Methode, die subjektive Sicht und Statistik raffiniert kombiniert. Die Interviewpartner sind ein Querschnitt der Bevölkerung, austariert nach Familienstand, Geschlecht, Alters- und Berufsgruppen. Doch anders als bei Ankreuz-Umfragen spielen sie in dem "nextexpertizer" genannten Verfahren eine emanzipierte und aktive Rolle - als Experten, deren Assoziationen und Emotionen zum Thema die Untersuchung mitbestimmen. Willkommen also auf der "Couch"! Wobei sich die Klienten in diesem Fall ersatzweise auf Bürogestühl in sechs deutschen Städten niederlassen, empfangen von psychologisch vorgebildeten Interviewern. Die stellen zunächst jedem Besucher Grundfragen wie die nach dem Ideal für ein erfülltes Alter. "Genug Rente, um bequem leben zu können", sagt die 35-jährige Angestellte aus Nürnberg. "Aktiv einer Aufgabe nachgehen", findet die 45-jährige Hausfrau aus Köln. "Soziale Anbindung", sagt der 63-jährige Ingenieur aus Bremen. Und die Situation von Alten in Deutschland heute - gleicht sie diesem Ideal, oder ist sie verschieden? "Verschieden!", finden alle drei. "Menschen fühlen sich abgeschoben", erklärt die Frau aus Köln. "Weniger Rente, existenzielle Sorgen", sagt die Nürnbergerin. "Isolation", meint der Bremer.
Anschließend nimmt das Interview einen Verlauf, der Sigmund Freud überrascht hätte. Denn statt ins eigene Innere blicken die Probanden nun in einen Computermonitor, auf dem ihnen schnell nacheinander eine Kaskade von Stichworten präsentiert wird, die alle mit Leben, Arbeit oder Alter zu tun haben. Die Liste hat Kruses Team gemeinsam mit der Körber-Stiftung zusammengestellt. "Ich als junger Mensch", "Ich in der Lebensmitte", "Ich als alter Mensch", heißt es da etwa. Oder: "Situation alter Menschen heute". Oder: "Situation von Älteren in Deutschland in den 70er/80er Jahren" oder "Alte aus Sicht der Jugend". Die Liste umfasst 65 Elemente, die dem Kern des Verfahrens dienen, dem "assoziativen Paarvergleich": Die Befragten sollen ihre eigenen Positiv- und Negativ- Beschreibungen zu jedem dieser 65 Stichworte am PC in Beziehung setzen.
Der Report
Statt ins Innere blickt der Proband auf einen Monitor
Der Ingenieur aus Bremen tut es unter Kamerabeobachtung. Frage des Interviewers: "Passt das Stichwort ‚Ich als junger Mensch‘ eher zu Ihrer Beschreibung ‚soziale Anbindung‘ oder zu ‚Isolation‘?" Antwort: "Zu Anbindung." Klick - gespeichert. "Und das Stichwort ‚Ich in der Lebensmitte‘?" "Auch." Klick. "Ich als alter Mensch?" "Auch." Klick. "Situation alter Menschen heute?" "Nein, zu Isolation." Klick. Und so fort bis zu Stichwort 65. Klick, klick, klick, klick. Schnelle Reaktionen sind erwünscht. Der Bauch soll den Ton angeben, nicht der Kopf. Ist die Liste abgearbeitet, kitzeln die Interviewer aus den Probanden weitere Positiv- und Negativbeschreibungen zu Leben, Arbeit, Alter heraus. Der Ingenieur nennt "sinnvolle Beschäftigung" contra "Langeweile und Antriebslosigkeit". Ein neuer PC-Durchlauf folgt. Wieder 65 Fragen. Wieder 65 Klicks. Gibt es weitere Assoziationen? Ja: "Fürsorge für andere" contra "unsoziales Verhalten". Bei dem Ingenieur werden es acht Durchläufe. Runde für Runde geben die Befragten ein wenig mehr von ihrem persönlichen Blick auf das Thema preis, ihre Wertmaßstäbe, Wünsche, Befürchtungen. Jedes Interview dauert, bis die Probanden und ihre Assoziationen erschöpft sind, in der Regel nach anderthalb bis zwei Stunden. Anschließend sind sie - anders als bei einer Analyse à la Freud - 35 Euro reicher und mit Dank entlassen. Der Ingenieur aus Bremen ist nun als Messpunkt im sozialen Gehirn gespeichert, genau wie es die Kölner Hausfrau und die Angestellte aus Nürnberg sind. Ihre Daten stehen bereit, umgerechnet zu werden - in ein Bild, das vor allem kollektive Zukunftsangst und tiefe Unzufriedenheit mit der Politik offenbart.
Für die Körber -Studie haben die 205 Probanden insgesamt mehr als 175 000 Einzelentscheidungen getroffen. Was folgt, ist die Suche nach Mustern hinter der Vielfalt. Dabei werden Aussagen zu Kategorien zusammengefasst, eine ausgeklügelte, selbst entwickelte Software der Firma kommt ins Spiel - und viel Mathematik. Durch die PC-Vergleiche stehen alle subjektiven Assoziationen jeweils mit allen vorgegebenen Stichworten in Beziehung. Die Software analysiert diese Beziehungen und wandelt sie in ein "mehrdimensionales Vektorfeld" um, vereinfacht formuliert: in räumliche Abstände, gruppiert nach den individuellen Vorlieben und Abneigungen. Das Psychogramm der Nation kann sich formen, weil alle Probanden ihre Assoziationen derselben Vergleichsliste zugeordnet haben. Kombiniert man die Datensätze aller 205 Interviews, ergeben sich "cluster", unterschiedliche Sichtweisen auf das Alter. Dabei erweist sich: Die Ideale der verschiedenen Gruppen sind kaum miteinander kompatibel. Im Detail soll die Studie der Öffentlichkeit im Februar 2013 präsentiert werden. Doch schon jetzt lässt sich eine erste Bilanz zur Seelenlage der Deutschen ableiten:
Es gibt vier Gruppen, die das Alter mit unterschiedlichem Blick betrachten
Kruses Team hat vier Altersmodelle identifiziert. Das "kollektiv-solidarische" Modell findet am meisten Zuspruch; hier sind 34 Prozent der Befragten einzuordnen. Hauptthema ist finanzielle Sicherheit. Im Kontrast dazu stehen die "heroischen Altruisten" (22 Prozent), für die individuelle Entwicklung und Sinnstiftung entscheidend sind. Beim "postmodern hedonistischen" Modell, das 30 Prozent favorisieren, stehen
Spaß und Erlebnisse im Vordergrund. Den Gegenpol bildet das "traditionell biografische" Modell, in dem sich diejenigen finden, die auf Würde, Erfahrung und Reife pochen (14 Prozent).
Die deutsche Seele hadert mit der Politik
Die 1970er und 1980er Jahre gelten im Rückblick als goldene Jahre Insgesamt herrscht allerdings bei allen Gruppen Nostalgie vor. Blicken die Befragten auf die vergangenen und die nächsten Jahrzehnte, erscheinen ihnen die 1970er und 1980er Jahre einer Ideal- Situation für Ältere am nächsten. Seit den 1990er Jahren hat sich die Lage aus ihrer Sicht verschlechtert. Die Gegenwart wird weit vom Altersideal entfernt verortet und schneidet in der Bewertung der Probanden sogar schlechter ab als die Nachkriegszeit. Besondere Kritik gilt der Sozialpolitik.
Freiheit kann auch überfordern
Es gibt Bereiche, in denen die Gegenwart besser bewertet wird als die Vergangenheit. Es herrscht Übereinstimmung, dass persönliche Freiheiten im Alter zugenommen haben. Zugleich aber bezweifeln die Befragten, dass sich gesellschaftliche Fehlentwicklungen durch privates Engagement der Älteren ausgleichen lassen.
Zukunftsaussichten? Note 5-
Der Blick in die Zukunft fällt skeptisch aus. Als Grundhaltung beim Vergleich "Alter heute" und "Alter morgen" überwiegt bei 74 Prozent aller Befragten die Variante "Resignation". Danach ist die Lage heute schon schlecht, und sie wird auch schlecht bleiben.
Doch viele sehen sich als Gewinner
Allerdings beurteilen Menschen die eigene Lage differenzierter und besser als die gesamte. 90 der 205 Befragten (44 Prozent) fühlen sich als Gewinner, 60 in der Mitte, 55 als Verlierer. Die Gewinner sehen das Alter als Phase für lebenslanges Lernen, für Spaß und das Ausschöpfen von Freizeitmöglichkeiten, für Experimentierfreude und Mobilität. Den Verlierern erscheint die Zukunft dagegen als reale Bedrohung. Die Teilhabe am sozialen Leben und eigenes Engagement sind für sie kein Thema.
Geld gilt als Schlüssel für gutes Altern
Insgesamt haben die Befragten 2720 freie Assoziationen zu Protokoll gegeben. Das Thema soziales Engagement tauchte nur bei sechs Prozent der Nennungen auf. Vornan im Interesse steht zuallererst das Geld. Auf der Positiv-Skala auf Rang 1 bis 3: die faire Relation von Arbeit und Rente, eine sorgenfreie Grundabsicherung und leistungsgerechte Bezüge am Lebensabend. Auf Rang 4 und 5 folgen die persönliche Weiterentwicklung und ein aktives Leben. Auch die Negativ-Skala wird von Finanzthemen dominiert. Rang 1 bis 5 der Sorgen: geringe Rente, Lohndumping, finanzielle Einschränkungen, sinkender Lebensstandard, ungerechtes Rentensystem.
Grundeinkommen wird weitgehend akzeptiert; Sterbehilfe ebenfalls
Das vielleicht überraschendste Ergebnis der Studie dürfte die positive Bewertung zweier politisch heikler Themen sein, die nicht im Mittelpunkt standen. Das bedingungslose Grundeinkommen wird von einer großen Mehrheit positiv gesehen. Dasselbe gilt für die Legalisierung der Sterbehilfe. Die Auswerter interpretieren beides als große Sehnsucht nach prinzipiell neuen Ansätzen.
Was lässt sich aus diesen Ergebnissen lernen?
Die Studie birgt gesellschaftlichen Sprengstoff. Denn bisher, so zeigt sie, reagiert die Psyche der Deutschen auf das Altersthema defensiv: mit der Verklärung der Vergangenheit, mit Resignation, mit Zukunftsängsten. Sich solche Blockaden einzugestehen, könnte der erste Schritt sein, sie zu überwinden. Sigmund Freud hätte der Ansatz der Körber- Studie in dieser Hinsicht gefallen. Für ihn war das freie Assoziieren die ideale therapeutische Methode, um auch unpassende und unangenehme Dinge ans Licht zu fördern - und damit Heilungsprozesse in Gang zu setzen. Zeit für Therapie bleibt. Die meisten von uns werden ja ziemlich alt werden.