Gänsegeier sind durchaus weltläufige Vögel, ihr Lebensraum reicht vom Mittelmeer über den Nahen Osten bis nach Indien. Sie verfügen auch über die nötige Austattung, um weite Reisen zu unternehmen: Die Spannweite ihrer Flügel kann mitunter 2,80 Meter betragen. Und die Tiere (wegen ihrer weißen Federn an Kopf und Hals auch Weißkopfgeier genannt) nutzen ihren Antrieb, jedenfalls zunächst: Weil sie frühestens ab dem fünften Lebensjahr Nachwuchs bekommen können, erkunden manche Jungtiere Gebiete weit außerhalb ihrer Heimat.
Forschende der University of California Los Angeles (UCLA) untersuchten nun Bewegungsmuster und Sozialverhalten verschiedener Gänsegeiergruppen. Sie versahen 142 Gänsegeier mit GPS-Trackern und verfolgten sie über einen Zeitraum von 15 Jahren. "Wir fanden heraus, dass mit zunehmendem Alter die Loyalität der Geier gegenüber bestimmten Schlafplätzen zunimmt", so Noa Pinter-Wollman, Professorin für Ökologie und Evolutionsbiologie an der UCLA. "Junge Geier suchen viele verschiedene Schlafplätze auf. Aber im mittleren Alter beginnen die Tiere, immer wieder dieselben Plätze aufzusuchen."
Abenteuerlustig mit fünf – Couch-Potato mit zehn
Die Studie zeigte, dass die Geier ab ihrem fünften Lebensjahr wieder häufiger in ihrer Heimat übernachteten, bis sie mit etwa zehn Jahren zu wahren Stubenhockern wurden. Eine Erklärung könnte sein, dass sie im Alter einfach weniger Energie mehr für lange Reisen haben und deshalb dieselben Schlafplätze aufsuchen. Auch der Tagesablauf der Geier glich sich immer mehr. So wie Menschen bestimmte Zeitpläne und Tagesabläufe entwickeln, scheinen Gänsegeier im Alter gewisse Rituale für die Futtersuche und die Ruhephasen aufzubauen. Während die älteren Tiere vorhersehbaren Routen zu denselben Schlafplätzen folgten, probierten die Jungtiere noch verschiedene Schlaforte ohne erkennbares Muster aus. Dabei mieden sie die Rastplätze der Alten, als fühlten sie sich von ihnen eingeschüchtert.
Auch das Sozialverhalten der Gänsegeier veränderte sich: Im Alter verbrachten die Geier deutlich weniger Zeit mit Artgenossen außerhalb ihrer alteingesessenen Clique. Ihre wenigen engen Freundschaften pflegten sie dafür umso intensiver: Sie teilten ihre Mahlzeiten, flogen zusammen ihre Routen ab und schliefen gemeinsam. Wie Menschen neigen die Geier offensichtlich dazu, enge Bindungen zu pflegen.
Entweder Einzelgänger oder Rudeltier
Dass Wildtiere im Laufe ihres Lebens ihr Verhalten ändern, belegten auch schon andere Studien. Wanderalbatrosse sind wie Gänsegeier langlebige Vögel, deren Lebensverlauf bisher nur selten über lange Zeitspannen verfolgt wurde. Bei männlichen Wanderalbatrossen beobachtete ein Forschungsteam der University of Washington Seattle, dass ihr Erfolg bei der Nahrungssuche im Alter abnahm, obwohl sie dafür weite Strecken bis südlich des Polarkreises zurücklegten. Stattdessen pausierten die alten Männchen häufiger sitzend auf dem Meer, was möglicherweise eine energiesparende Strategie sein könnte. Auch Rothirschkühe ziehen sich im Alter zurück und suchen Gebiete mit weniger Artgenossen auf. Den Grund für dieses Verhalten kann die Wissenschaft bisher nur erahnen. Vielleicht werden die Alttiere tatsächlich wählerischer bei ihren sozialen Kontakten oder sie hoffen auf mehr Nahrung in abgelegenen Regionen.
Ganz anders ist die Stellung der älteren Tiere bei Elefanten: Die alten Matriarchinnen sind überlebenswichtig für ihre Herde, denn sie kennen die Wege zu Wasserstellen oder Weideflächen und geben ihr Wissen weiter. Eine ähnliche Rolle übernehmen alte Schwertwalweibchen: Sie führen ihre Gruppe zu bekannten Lachsgründen. Besonders in Jahren mit wenig Lachsen, verlassen sich die anderen Schwertwale auf das Wissen der alten Weibchen. Werden diese Anführerinnen aufgrund ihrer Größe gewildert, kann das fatale Folgen für die gesamte Herde haben.