Der Jainismus, eine Religion, die in Indien wohl im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden ist und heute viele Millionen Gläubige zählt, lehrt: Die ganze Welt ist beseelt, wir sind umgeben von fühlenden Wesen, mit denen es in Einklang zu leben gilt. Praktizierende Jains leben vegetarisch oder vegan, auch Wurzelgemüse oder Lauchgewächse fehlen auf ihrem Speiseplan, denn das Ausreißen der Pflanze könnte Kleinlebewesen töten. Viele tragen einen Mundschutz, um kein Insekt versehentlich einzuatmen. Mönche fegen vor jedem Schritt den Boden, damit ihr Fuß kein Wesen versehentlich zertritt.
Eine ferne, bizarre Glaubenswelt? Oder eine vorbildliche Lebensweise, der auch wir uns anschließen sollten?
Klar ist: Wir müssen über das Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen neu nachdenken. Die Verhaltensforschung bringt in jüngster Zeit Erkenntnisse zu Tage, die unser Bild von den Tieren revolutionieren, sie in völlig neuem Licht erscheinen lassen. So haben Forscherinnen und Forscher herausgefunden, dass Ratten Mitleid mit ihresgleichen empfinden, dass Fledermäuse Freundschaften pflegen und Vögel Gedanken lesen können. Von Käfern, die optimistisch auf die Welt blicken und von Hummeln, die Werkzeuge benutzen (GEO berichtet in seiner Printausgabe, 03/24, in einer Titelgeschichte ausführlich darüber. Auf GEOplus können Sie die Titelgeschichte nicht nur lesen, sondern auch hören.).
Der Gegensatz zwischen vernunftgesteuertem Homo sapiens und instinktgesteuertem Tier, der lange als Gewissheit galt – er existiert schlichtweg nicht, erklärte mir der Biologe Norbert Sachser. Und er geht noch weiter: Wir seien den Tieren näher gerückt. Es stecke viel mehr Mensch im Tier, als wir uns vor wenigen Jahren noch vorstellen konnten.
Forschende stellen alte Gewissheiten radikal infrage
Dies ist keineswegs eine exotische Einzelmeinung. Sachser ist ein Wegbereiter der Verhaltensbiologie in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. In den Instituten von München bis Rostock, von Ohio bis Auckland stellen Forschende alte Gewissheiten radikal infrage.
Und das Umdenken hat ja durchaus schon eingesetzt. Allerdings nur in Teilbereichen. Und auf bisweilen höchst widersprüchliche Weise. Bruder Schimpanse, das klingt erst mal gar nicht so abwegig. Wie Schimpansen verschiedene Werkzeuge in planmäßiger Folge einsetzen, Speere, mit denen sie auf die Jagd gehen, in fünf Arbeitsschritten herstellen – das erinnert durchaus an die Anfänge menschlicher Werkzeugkultur. Dass sie ein vielfältiges Sozialleben führen, dass sie Freundschaften pflegen, Wertschätzung und Empathie kennen: Das verwundert uns bei unseren nächsten Verwandten kaum noch.
Medizinische Versuche an Menschenaffen finden in Deutschland aus ethischen Gründen schon seit 1991 nicht mehr statt. Auch ist es Konsens, dass wir sie nicht mehr einsperren und zur Schau stellen sollten.
Warum aber darf dann der Krefelder Zoo, nach dem verheerenden Brand vor drei Jahren, mit dem Wiederaufbau von Affengehegen für Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans beginnen? Artenschutzzentrum Affenpark nennen die Betreiber ihre Anlage. Das klingt schön. Zu schön. Die Tierschutzorganisation PETA bezeichnet das Projekt als Schlag ins Gesicht für den Artenschutz. Ich finde, sie hat recht. In deutschen Zoos geborene Menschenaffen können für das Überleben in der Natur wichtige Verhaltensweisen gar nicht erlernen, eine Auswilderung ist kaum möglich.
Auch Delfine, die von Natur aus die Weiten der Ozeane durchmessen, werden immer noch in Bassins eingepfercht. In mehreren Ländern Europas wurde die Delfinhaltung schon vor Jahren beendet, nicht so in Deutschland. Im Duisburger Zoo und im Tiergarten Nürnberg werden die Meeressäuger nach wie vor zur Schau gestellt, müssen vor zahlendem Publikum Kunststücke vorführen.
Wieso werden Delfinarien nicht geschlossen?
Das deutsche Tierschutzgesetz schreibt vor, Leben und Wohlbefinden der Tiere zu schützen. Paragraf eins lautet: Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Wer ein Tier hält, muss nach dem Gesetz dafür sorgen, dass es so ernährt, gepflegt und untergebracht wird, wie es den Bedürfnissen seiner Art entspricht.
Was wäre ein vernünftiger Grund, dagegen zu verstoßen? Zur Schau stellen und Eintrittsgelder kassieren? Dass die Haltung und Zurschaustellung von Meeressäugern in engen Becken Tierquälerei ist, kann niemand ernsthaft bestreiten. Wieso werden Delfinarien nicht geschlossen?
Wobei es den wertvollen Publikumsmagneten dort noch vergleichsweise gut geht. Verglichen jedenfalls mit den Tieren in der Massenhaltung zur Fleischproduktion. Denken wir nur an die armen Schweine, die eingepfercht auf engem Raum in riesigen Hallen einem Ende im Schlachthaus entgegenvegetieren. Wir sehen Fleisch-Vorprodukte in ihnen, nicht empfindsame Wesen.

Schweine, auch das hat die Forschung herausgefunden, besitzen ein Langzeitgedächtnis, haben eine räumliche Vorstellung und ein ausgeprägtes Spielverhalten. Schweine wollen in stabilen sozialen Gruppen leben, das ist wichtig für ihre emotionale Gesundheit. Sie brauchen die Kontrolle über ihre Umgebung, sie leben in Gemeinschaften mit Kenntnissen über andere Individuen, sie können voneinander lernen, sie kooperieren miteinander, sie zeigen Mitgefühl für ihresgleichen.
Schweine zeigen Verhaltensweisen, die denen von Menschenaffen ähneln. Doch Schweine werden nicht als Mitgeschöpfe geschätzt, sondern als Schnitzel.
Und jenseits der Klasse der Säugetiere erlischt unser Mitgefühl dann vollends. Denn wir denken noch immer in biblischen Kategorien, wir haben verinnerlicht: Das Leben auf Erden baut sich auf wie eine Pyramide. Unten das Gewürm, oben die Wirbeltiere, ganz oben die Säugetiere, und an der Spitze: der Mensch, als Meisterwerk der Schöpfung.
Wir haben auch unsere Vorstellung evolutionärer Mechanismen diesem hierarchischen Denken angepasst. Wir meinen, die evolutionsgeschichtlich ältesten Wirbeltiere, wie die Fische, seien die primitivsten, die jüngeren höher entwickelt, mit dem Menschen als Meisterwerk der Evolution an der Spitze.
Wir sehen bei Fischen keine Tränen
Aber ist das wirklich so? Unter Fachleuten ist diese Sichtweise längst überholt, erklärte mir Jens Krause, Professor für Fischökologie an der Berliner Humboldt-Universität. Jede Gruppe hat sich über Jahrmillionen auf ihre jeweilige Nische spezialisiert. Es gibt da keine Hierarchie. Intelligentes Verhalten habe sich bei den unterschiedlichsten Tiergruppen unabhängig voneinander entwickelt.
Über das wahre Dasein der Fische wissen wir wenig. Es hat uns nie wirklich interessiert. Verhaltensbiologen sehen mittlerweile erstaunliche Belege für außerordentlichen Verstandsleistungen unter Wasser. Bei diversen Fischarten fanden sie klare Hinweise auf soziale Strategien, soziales Lernen, auf Traditionsbildung und kooperative Jagd. Dass sie Schmerz empfinden können, ist längst Konsens. Nur Angler wollen das immer noch nicht glauben.
Pech für die Tiere, dass sie keine Mimik zeigen können. Wir sehen keine Tränen, wenn sie mit durchbohrtem Maul aus dem Wasser gezogen werden. Und ihre Schreie hören wir nicht. Sie gelten uns immer noch als vergleichsweise primitive Lebewesen. Denn wenn wir Geschöpfen Gefühle zugestehen oder sie als intelligent bezeichnen, meinen wir in der Regel etwas, das auf die gleiche Weise funktioniert wie der Mensch. Menschliche Intelligenz aber ist nur eine von vielen auf dem Planeten Erde, und nicht deswegen schon höherwertig, weil sie menschlich ist. Sie ist vielleicht einzigartig – wie aber die Intelligenz anderer Lebewesen auch.
Die größten Sensationen der neueren Forschung kommen aus dem Reich der Insekten. Lars Chittka, Professor für Sinnes- und Verhaltensökologie an der Queen-Mary-Universität in London, fand in Intelligenztests mit Bienen und Hummeln heraus, dass diese sich wie vernunftbegabte Wesen verhalten. Sie verfügen über ein individuelles und autobiografisches Wissen, können die Folgen ihrer Handlungen abschätzen, besitzen Basisemotionen und Intelligenz, mithin Kernkompetenzen eines Denkvermögens.
Chittka ist kein akademischer Außenseiter, sondern ein angesehener Wissenschaftler, der akribisch forscht. Für das Denken der Bienen sieht er vielerlei Hinweise. Sie fänden in Tests nicht durch Herumprobieren, nicht durch Versuch und Irrtum zur richtigen Lösung, sondern durch Nachdenken. Sie hätten eine Vorstellung, wie sie zum Ziel gelangen. Und sie benutzen Werkzeuge dafür. Sie lösen Probleme durch Anwendung von Vernunft.
Tiere haben Charakter, sie unterscheiden sich in Verhalten und Temperament, das ist bei Säugetieren oft augenfällig. Aber auch Insekten besitzen offenbar eine Persönlichkeit. Blattkäfer etwa unterscheiden sich sehr deutlich darin, wie schnell und aktiv verschiedene Individuen eine ihnen fremde Umgebung erkunden. Wird das Verhalten derselben Tiere vier Wochen später in einer anderen Umgebung erneut beobachtet, so zeigt sich auch hier: Je couragierter oder zögerlicher ein Käfer im ersten Durchgang war, so mutig oder ängstlich war er auch im zweiten.
Was folgt aus all diesen verblüffenden Erkenntnissen?
Wir messen das tierische Leben nach unseren menschlichen Maßstäben, wir ordnen die Tierwelt nach unseren Bedürfnissen. Erst wenn wir uns von diesen alten Denkmustern lösen, können wir weiter blicken, werden wir lernen, unsere Mitgeschöpfe zu respektieren und wertzuschätzen.
Nein, ich denke nicht, dass wir deswegen zum fernöstlichen Jainismus konvertieren müssen. Vielleicht halten wir es einstweilen mit Albert Schweitzer, einem der bedeutendsten europäischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der forderte als ethischen Grundsatz eine Ehrfurcht vor dem Leben – eine menschliche Grundüberzeugung, sich für alles Leben auf Erden verantwortlich zu fühlen.

Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Dieser Satz von ihm scheint in Zeiten von Artensterbens und industrieller Massentierhaltung hoch aktuell. Wie sich diese weitreichende Verantwortung im Handeln darstellt? Für ihn auch im Kleinen und gegenüber den Kleinen. Er regt an, den Regenwurm von der Straße aufzuheben und ins Gras zu setzen.
Kinderkram?
Nicht erst, seit ich von den erstaunlichen kognitiven Fähigkeiten der Insekten erfahren habe, benutze ich den Schnappi, dieses praktische Fanggerät, um ungebetene Mitbewohner zurück in den Garten zu setzen. Das wird die Welt nicht retten. Und ich bin gewiss weit entfernt von einer konsequenten Haltung à la Schweitzer. Wir alle ziehen so unsere Grenzen, kommen an unsere Grenzen. Was aber die Forschenden uns jetzt aus der Tierwelt berichten, das lässt nur einen Schluss zu: Wir müssen diese Grenzen neu definieren. Quälerische Tierhaltung endlich beenden, na klar. Und vielleicht auch mal im Vorbeigehen einen Regenwurm retten.