Neurologie Die fünf Leben des Gehirns: Forschende identifizieren Wendepunkte des Denkens

Unser Gehirn durchläuft fünf Phasen der Entwicklung 
Unser Gehirn durchläuft fünf Phasen der Entwicklung 
© Akinbostanci / Getty Images
Unser Gehirn baut sich ständig um. Dabei schlägt es im Lauf des Lebens unterschiedliche Richtungen ein – was unsere Risiken für gewisse Krankheiten bestimmt

Unser Gehirn wandelt sich unentwegt. Von der Geburt bis zum Tod, während wir wachsen, reifen und schließlich altern, passt es seine Arbeitsweise an. 

Neurowissenschaftler der Universität Cambridge haben nun fünf wichtige Phasen der neuronalen Vernetzung im Laufe eines Menschenlebens identifiziert. Ende einer Phase und Beginn einer neuen Phase sind gekennzeichnet durch vier wichtige Wendepunkte, in denen die Entwicklung rasante Kurven nimmt und das Gehirn seine Strategie ändert, um sich neu zu konfigurieren. Diese Wendepunkte liegen im Alter von etwa neun, 32, 66 und 83 Jahren.   

"Rückblickend haben viele von uns das Gefühl, dass unser Leben von verschiedenen Phasen geprägt war. Es stellt sich heraus, dass auch das Gehirn diese Phasen durchläuft", sagt der leitende Autor Duncan Astle, Professor für Neuroinformatik. "Das Verständnis, dass die strukturelle Entwicklung des Gehirns keine Frage eines stetigen Fortschritts ist, sondern vielmehr eine Frage einiger weniger wichtiger Wendepunkte, wird uns helfen, zu erkennen, wann und wie seine Verdrahtung anfällig für Störungen ist."

Für seine Untersuchung verglich das Forschungsteam die Gehirne von 3802 Menschen im Alter zwischen null und 90 Jahren. Grundlage waren MRT-Diffusionsscans: Sie bilden die neuronalen Verbindungen ab, indem sie die Bewegung von Wassermolekülen durch das Gehirngewebe verfolgen. Seine Ergebnisse präsentiert das Team in einer Studie in der Fachzeitschrift "Nature Communications".

"Wir wissen, dass die Verdrahtung des Gehirns für unsere Entwicklung entscheidend ist, aber uns fehlt ein Gesamtbild davon, wie sie sich im Laufe unseres Lebens verändert und warum", sagt die Forscherin Alexa Mousley. "Diese Studie ist die erste, die wichtige Phasen der Verdrahtung des Gehirns im Laufe des menschlichen Lebens identifiziert."

Phase 1: Die Kindheit

Die (Hirn-)Entwicklung vom Säugling bis zum Kind ist für Außenstehende am verblüffendsten. Das Gehirn lernt so viele neue Dinge wie nie im weiteren Leben. Doch wenn man ins Denkorgan blickt, bleibt die Richtung der Entwicklung dabei annähernd dieselbe: Das neuronale Netzwerk wird gefestigt. 

Das Gehirn eines Babys produziert übermäßig Synapsen, also Verbindungen zwischen den Neuronen. In der Kindheit wird diese Fülle reduziert, und nur die aktiveren Synapsen bleiben übrig. Benachbarte Regionen vernetzen sich enger und spezialisieren sich. Dabei sinkt allerdings die Effizienz der Kommunikation über weitere Strecken im Gehirn.

Das Volumen der grauen und weißen Substanz nimmt rapide zu. Vereinfacht gesagt, bildet die graue Substanz das "Rechenzentrum", während die weiße Substanz die "Verbindungskabel" stellt. Die kortikale Dicke, also der Abstand zwischen der äußeren grauen und der inneren weißen Substanz, erreicht ihren höchsten Wert. Zugleich stabilisieren sich die kortikalen Falten, also die charakteristischen Rillen an der Außenseite des Gehirns.

Phase 2: Die Adoleszenz

Im Durchschnitt findet der erste Wendepunkt der Entwicklung um das neunte Lebensjahr statt. Das Volumen der weißen Substanz wächst weiter, und die Organisation der Kommunikationsnetzwerke verfeinert sich zunehmend. Neu in dieser Phase ist, dass das Gehirn die Pfadlänge der Verbindungen optimiert. "Die neuronale Effizienz ist, wie man sich vorstellen kann, durch kurze Wege gut vernetzt, und die Pubertät ist die einzige Phase, in der diese Effizienz zunimmt”, sagt Mousley.

Dadurch arbeitet das Gehirn in dieser Phase insgesamt zunehmend effizienter. Nun verbessert sich auch wieder die Kommunikation über weite Teile des Gehirns. Die Folge sind Sprünge in der kognitiven Leistungsfähigkeit. 

Der erste Wendepunkt im Alter von neun Jahren fällt nicht zufällig mit dem Beginn der Pubertät zusammen. Die Veränderungen im Gehirn beeinflussen die sozio-emotionale und die verhaltensbezogene Entwicklung des nun adoleszenten Menschen, erhöhen aber auch das Risiko für psychische Störungen. 

Diese zweite Phase der Hirnentwicklung erstreckt sich bis kurz nach dem 30. Geburtstag, also bis weit ins frühe Erwachsenenalter. Ein erstaunlich später Zeitpunkt. "Während die Pubertät einen klaren Anfang darstellt, ist das Ende der Adoleszenz wissenschaftlich viel schwieriger zu bestimmen. Rein auf der Grundlage der neuronalen Architektur haben wir festgestellt, dass jugendliche Veränderungen in der Gehirnstruktur mit etwa Anfang 30 enden," sagt Mousley. Um das 30. Lebensjahr herum erreicht das Gehirn seine größte Effizienz.

Phase 3: Das Erwachsenenalter

Mit etwa 32 Jahren schaltet die neuronale Verdrahtung des Gehirns in den Erwachsenenmodus um. Dies ist die längste Phase, die über drei Jahrzehnte andauert. Das Erwachsenenalter des Gehirns beginnt mit dem "stärksten topologischen Wendepunkt" der gesamten Lebensspanne. "Im Alter von etwa 32 Jahren sehen wir im Vergleich zu allen anderen Wendepunkten die stärksten Richtungsänderungen in der Verdrahtung und die größte Gesamtverschiebung in der Entwicklung", sagte Mousley.

Im Vergleich zu früheren Phasen stabilisiert sich die Gehirnarchitektur. Dies entspricht einem "Plateau in Bezug auf Intelligenz und Persönlichkeit", wie andere Studien zeigen.

Das Gehirn arbeitet zwar effizient, die komplexen, schnellen Veränderungen der Jugend sind jedoch vorbei. Ganz starr bleibt das Gehirn in dieser langen Phase jedoch nicht. Die Forschenden konnten beobachten, wie die Hirnregionen langsam stärker voneinander abgegrenzt werden. Dieser Prozess wird als Segregation bezeichnet und führt zu einem leichten Sinken der Effizienz.

Phase 4: Das frühe Altern

Der Wendepunkt im Alter von 66 Jahren ist weitaus milder. "Die Daten deuten darauf hin, dass eine allmähliche Umstrukturierung der Hirnnetze Mitte der Sechziger ihren Höhepunkt erreicht", sagte Mousley. "Dies hängt wahrscheinlich mit dem Alterungsprozess zusammen, bei dem die Konnektivität weiter abnimmt, da die weiße Substanz zu degenerieren beginnt."

Die weiße Substanz wird zunehmend abgebaut, die topologischen Muster werden einfacher, und das Netzwerk wird ausgedünnt. Zugleich beobachteten die Forschenden eine weitere Zunahme der Trennung und Spezialisierung der einzelnen Regionen – das Gehirn arbeitet modularer. Dies könnte eine Strategie des Gehirns sein, um die Abnahme der allgemeinen Effizienz zu kompensieren.

In diesem Alter sind Menschen einem erhöhten Risiko für verschiedene Gesundheitsprobleme ausgesetzt, die das Gehirn beeinträchtigen können, beispielsweise Bluthochdruck oder Demenz. 

Phase 5: Das später Altern

Der letzte Wendepunkt wird im Alter von etwa 83 Jahren erreicht, die letzte Epoche der Gehirnstruktur beginnt. Obwohl die Daten für diese Phase begrenzt sind, ist das bestimmende Merkmal ein Wandel von globalen zu lokalen Hirnstrukturen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Konnektivität des gesamten Gehirns weiter abnimmt und bestimmte Regionen zunehmend stärker beansprucht werden. 

In dieser Phase konnten die Forschenden das Lebensalter der Probanden am schlechtesten an der Gehirnentwicklung festmachen. Entweder lässt sich dies auf die relativ schmale Datenbasis zurückführen, oder die Gehirnentwicklung entkoppelt sich vom Alter, das Gehirn würde dann bei den Menschen unterschiedlich stark altern. 

"Viele neurologische Entwicklungsstörungen, psychische Erkrankungen und neurologische Erkrankungen hängen mit der Verdrahtung des Gehirns zusammen. Tatsächlich lassen Unterschiede in der Verdrahtung Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, der Sprache, dem Gedächtnis und einer Reihe unterschiedlicher Verhaltensweisen erwarten", sagt Mousley.

Die Studie liefert die bislang klarste Einteilung der Gehirnentwicklung in verschiedene Phasen. In zukünftigen Studien wird es interessant sein, die Veränderungen im Gehirn mit Veränderungen der Persönlichkeit, der kognitiven Fähigkeiten und von Krankheitsrisiken genauer in Verbindung zu bringen. Dann ließen sich womöglich auch Erkenntnisse gewinnen, um Krankheiten besser vorzubeugen. 

"Diese Phasen liefern einen wichtigen Kontext dafür, worin unser Gehirn in verschiedenen Lebensphasen am besten ist oder wofür es anfälliger ist", sagt Mousley. "Sie könnten uns helfen zu verstehen, warum sich manche Gehirne an wichtigen Punkten im Leben anders entwickeln, sei es in Form von Lernschwierigkeiten in der Kindheit oder Demenz im Alter."