Es beginnt oft unspektakulär: ein riskantes Manöver im Straßenverkehr, ein Diebstahl im Supermarkt, eine Belästigung, die völlig untypisch erscheint. Angehörige berichten dann von Situationen, in denen ein sonst umsichtiger Mensch die rote Ampel ignoriert, impulsiv laut wird oder fremde Gegenstände einsteckt, später jedoch nicht erklären kann, warum. In manchen Fällen stehen solche Vorfälle am Anfang einer längeren Odyssee: zwischen Scham, Strafverfahren und der Suche nach einer medizinischen Erklärung.
Eine neue Metaanalyse des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften zeigt nun, dass genau dieses kriminelle Risikoverhalten ein frühes Warnsignal für neurodegenerative Erkrankungen sein könnte, und zwar häufiger als bislang bekannt.
Erstmals kriminell – im mittleren Lebensalter
Das Forschungsteam um Matthias L. Schroeter und Lena Szabo sichtete 14 internationale Studien mit insgesamt 236.360 Personen. Ihr Ergebnis: Wenn Menschen erstmals im mittleren oder höheren Lebensalter kriminell auffällig werden, kann das ein Vorzeichen einer beginnenden Demenz sein.
Dabei geht es meist nicht um planvoll begangene Straftaten, sondern um impulsive, unüberlegte Handlungen: Verkehrsdelikte, Belästigungen, Diebstähle, Vandalismus und in seltenen Fällen körperliche Aggressionen. Für Angehörige wirkt dieses Verhalten oft, als hätte jemand "seine Hemmungen verloren". Genau das bestätigen die Daten.
Frontotemporale Demenz besonders häufig betroffen
Am ausgeprägtesten zeigte sich der Zusammenhang bei der frontotemporalen Demenz (FTD), einer Form, die häufig schon Menschen in ihren Fünfzigern trifft. Sie verändert früh jene Hirnregionen, die soziale Urteilsfähigkeit, Impulskontrolle und Empathie steuern. Hier fanden die Forschenden, dass rund die Hälfte der Betroffenen im frühen Krankheitsstadium ein kriminelles oder sozial deutlich auffälliges Verhalten entwickeln, oft sogar als allererstes Symptom.
Bei Alzheimer kommt so etwas ebenfalls vor, aber weitaus seltener: Schätzungen liegen hier bei rund zehn Prozent. Andere neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson oder vaskuläre Demenz zeigen entsprechend noch niedrigere Werte.
Interessant dabei: In frühen Krankheitsstadien scheinen sowohl Alzheimer- als auch FTD-Betroffene häufiger straffällig zu werden als die Allgemeinbevölkerung. Nach der Diagnose sinkt jedoch die Rate deutlich unter das Durchschnittsniveau. Der Grund: Mit fortschreitender Erkrankung verlieren die meisten Menschen eher Fähigkeiten, als dass sie noch spontan Regelverstöße begehen.
Wenn Hemmschwellen im Gehirn bröckeln
In einer ergänzenden Studie untersuchten die Forschenden auch die neurologischen Grundlagen. Dabei zeigte sich bei FTD-Betroffenen mit kriminellem Verhalten eine stärkere Atrophie im Temporallappen. Dieser Bereich ist unter anderem für emotionale Regulation, Impulskontrolle und die Bewertung sozialer Situationen entscheidend ist.
Schroeter spricht von einer "Enthemmung", die durch den fortschreitenden Verlust dieser Hirnstrukturen entsteht. Die meisten Betroffenen hatten keinerlei kriminelle Vorgeschichte: Das Verhalten tritt neu auf und ist eine direkte Folge der neurodegenerativen Veränderungen.
Auch Geschlechterunterschiede fanden die Forschenden: Männer zeigten nach Diagnose einer FTD viermal häufiger kriminelles Verhalten als Frauen, bei Alzheimer sogar siebenmal häufiger.
Ein gesellschaftlich brisantes Thema – und ein medizinisches
Die Befunde haben eine heikle Dimension: Wenn neurodegenerative Erkrankungen Normverletzungen begünstigen können, stellt sich die Frage, wie Justiz, Medizin und Angehörige damit umgehen sollten.
Für Schroeter ist klar: Es geht nicht darum, Menschen mit Demenz unter Generalverdacht zu stellen. Im Gegenteil. Die meisten Taten, die in den Studien dokumentiert wurden, waren geringfügige Vergehen und häufig Ausdruck eines Kontrollverlusts, nicht von Absicht. Entscheidend sei deshalb zweierlei:
1. Früherkennung:
Wenn ein Mensch ab 50 plötzlich impulsiv Regeln bricht, gehört eine neurologische Abklärung zum Standard. Denn je früher eine Demenz erkannt wird, desto besser kann man therapeutisch gegensteuern, desto früher lassen sich auch Angehörige entlasten.
2. Sensibilisierung des Rechtssystems:
Strafverfahren gegen Menschen, die nicht verstehen, was sie tun, werfen ethische Fragen auf. Die Forschenden plädieren daher für mehr Fachwissen in Polizei, Gerichten und Strafvollzug sowie für Entscheidungen, die die Erkrankung berücksichtigen.
Warum diese Studie wichtig ist
Kriminelles Verhalten als potenzielles Frühsymptom einer Demenz: Diese Verbindung klingt zunächst überraschend. Doch je genauer Forschende die Daten betrachten, desto klarer wird: Verhaltensauffälligkeiten gehören bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen zu den ersten Signalen.
Die neue Analyse zeigt nun erstmals systematisch, wie stark dieser Zusammenhang sein kann. Und sie eröffnet eine wichtige Perspektive: Frühe Normüberschreitungen können ein medizinischer Hilferuf sein – lange bevor Gedächtnisverlust oder Sprachprobleme auftreten.