Als Michel Poulain und Gianni Pes die Blue Zones ausriefen, hoffte die mediale Öffentlichkeit auf nicht weniger als die Entdeckung eines Jungbrunnens: Den beiden Langlebigkeitsforschern war aufgefallen, dass in bestimmten Zonen der Welt besonders viele Menschen lebten, die 100 Jahre und älter waren. Sie markierten diese Spots blau auf der Karte: Blue Zones nannten sie in der Folge diese Orte, und die Weltöffentlichkeit hoffte, vom Lebensstil der Bewohner etwas über das Geheimnis der Langlebigkeit zu entschlüsseln.
Denn die Menschen waren in diesen Regionen nicht nur steinalt, sondern zugleich bemerkenswert fit und gesund: Statt im Altenheim lebten viele der Hochbetagten im eigenen Haushalt, gingen ungewöhnlichen Hobbies wie Wasserskifahren nach, stemmten Gewichte im Sportverein oder machten Touren mit dem Motorrad. Viele arbeiteten dank ihrer erhaltenen Vitalität sogar noch in einem Beruf, kümmerten sich etwa um Bienenstöcke und ähnliches, ja einige arbeiteten mit über 90 noch als Herzspezialist und berieten den Nachwuchs.
Blue Zones: Helfen sie, den Code der Langlebigkeit zu entschlüsseln?
Heute zählen die japanische Insel Okinawa, die Insel Ikaria in Griechenland, Teile der italienischen Insel Sardinien, die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica sowie die Adventisten-Gemeinde Loma Linda in Kalifornien zu Hotspots der Langlebigkeit.
Auch wenn es inzwischen auch Kritik am Konzept der Blue Zones gibt (etwa, dass in diesen Regionen häufig Geburtsregister fehlen und es sich teils um extrem abgeschiedene Regionen handelt, deren Lebensbedingungen sich schlecht übertragen lassen), destillierte der Demograf Poulain sieben Lebensstilfaktoren, die die Zentren der Langlebigkeit gemeinsam hatten. Steckt in diesen die Anleitung für gutes Altern?
1. Wie Bewegung das Leben verlängern kann
Das Leben der Menschen in den Blue Zones ist generell bewegungsreich, die Bewohner gehen überwiegend zu Fuß statt sich motorisiert fortzubewegen, und sie leisten körperliche Arbeit auf dem Feld oder im eigenen Gemüsegarten statt im Sitzen zu arbeiten. Auf Sardinien beispielsweise leben viele Menschen physisch hoch aktiv, was sie bis ins hohe Lebensalter fit hält. Der Langlebigkeitsforscher Gianni Pes berichtet von Hirten, die an einigen Tagen bis zu 30 Kilometer gelaufen sind.
2. Wie pflanzliche Kost und geringe Kalorien das Altern verzögern
Besondere Aufmerksamkeit widmeten zahlreiche Studien der Ernährung: Der mittlerweile im Ruhestand befindliche Alternsforschende Makoto Suzuki begann 1976 mit einer Studie auf Okinawa, in der mehr als 900 Hundertjährige untersucht wurden. Inzwischen leitet sich aus den Beobachtungen eine "Okinawa-Diät" ab: Die Hochaltrigen der Insel bezeichnen Essen als die Medizin ihres Lebens. Die Befragten ernährten sich überwiegend vegetarisch. Als Proteinquelle dienten Tofu und in Maßen Fisch anstelle von Fleisch. Dazu aßen sie Hülsenfrüchte und gute Ballaststoffe. Entscheidend war, dass viele nur etwa 80 Prozent des regulären Energiebedarfs am Tag verzehrten. Dies Prinzip der Kalorienreduktion, täglich sind es nur etwa 2000kcal, nennen Japaner "hara hachi bu". Das konfuzianisch inspirierte Sprichwort besagt: "Iss, bis Du zu 80 Prozent satt bist". Die Alten Okinawas sagen es Berichten zufolge vor jeder Mahlzeit. Für Wissenschaftler und Alternsforschenderinnen gilt Kalorienbeschränkung tatsächlich als ein Langlebigkeitsfaktor.
Bei der Nahrungszubereitung gilt zudem auf Okinawa das Gebot, sich Zeit zu nehmen, sowohl beim Kochen wie auch beim Verzehr. Besonders häufig landet in der traditionellen Küche von Okinawa die Goya auf dem Teller, eine Bittergurke mit einer Fülle an antioxidativen Nährstoffen, die auch den Blutzucker ins Gleichgewicht bringen. Auch Süßkartoffel und Tofu sind Teil der okinawischen Kost. Das Risiko von Altersdiabetes, Schlaganfall und Krebs ist bei der traditionellen Ernährung Okinawas deutlich gegenüber westlichen Industrienationen gesenkt. In vielen der Blue Zones werden zudem die Grundlagen der mediterranen Kost eingehalten. Traditionelle Gerichte der mediterranen Ernährung sind gemüsereich, es gibt Bohnen, Fisch sowie Schaf- und Ziegenmilch anstelle von Kuhmilch. Hinzukommt Olivenöl aus eigener Olivenernte.
3. Warum soziales Miteinander und gemeinsame Mahlzeiten guttun
Mahlzeiten werden in den Zonen der Langlebigkeit nicht nur selbst und aus frischen Zutaten zubereitet, sondern am großen Tisch mit Freunden und Familie über Stunden verzehrt. In der westlichen Kultur leben Menschen häufig vereinzelt, was zunehmend als sogar potenziell tödlicher Risikofaktor in den Blick rückt. Vermutlich ist der Schutz vor Einsamkeit ein protektiver Faktor für die Gesundheit und fördert Langlebigkeit. Die gemeinsame Zeit beim Essen könnte zudem helfen, das Stressniveau gering zu halten und Genuss und Lebensfreude zu kultivieren.
4. Warum Generationen zusammenhalten sollten
Im Leben der Hochbetagten nimmt die Familie eine wichtige Rolle ein. Nicht selten sind vier Generationen bei Treffen versammelt und die soziale Unterstützung im Familien- und Freundeskreis gilt Hochaltrigen als Teil ihres Lebenssinns und ihrer Philosophie. Die Adventisten Loma Lindas haben es beispielsweise in ihrer Philosophie verankert, anderen zu helfen, zu dienen und Dankbarkeit, ein soziales Gefühl, zu kultivieren.
5. Wie Freunde der Lebenserwartung dienen
Viele soziale Kontakte und die soziale Verankerung sind in den Blue Zones wichtig. In Okinawa etwa gibt es ein eigenes Wort dafür: "Moai", die Gruppe lebenslanger Freunde, die einander täglich besuchen. Die Menschen dort motivieren sich gegenseitig zu mehr Lebenssinn und fördern gegenseitig ihren Optimismus. Sie wissen, wer depressiv ist und Besuch braucht, sogar finanzielle Hilfe kann aus dieser Gruppe ritualisierter Freunde kommen.
6. Warum "Ikigai" Sinn stiftet und das Leben verlängert
Wofür lohnt es sich heute aufzustehen? Diese Frage können Bewohnende der Blue Zones in der Regel beantworten. Die Suche nach Ikigai, dem Lebenssinn, ist in Japan kulturell verankert. Menschen folgen bis ins hohe Alter ihrer Berufung. Eine Langzeitstudie der japanischen Universität Tohoku konnte einen Zusammenhang von "Ikigai" zu Sterblichkeit aufzeigen: Studienteilnehmende, die ihr "Ikigai" geklärt hatten und nach Talenten und Werten lebten, wiesen eine geringere Sterblichkeit auf als jene, die ihr Ikigai nicht lebten. Auch der Glaube kann offenbar die Lebenserwartung steigern. Die Bewohner der Adventisten-Gemeinde Loma Linda gaben in Befragungen ebenfalls an, dass ihr Glaube und ihre optimistische Lebenseinstellung für sie im Leben zentral seien. Sie bemühen sich aktiv, Dinge positiv zu sehen. In Okinawa gehört Spiritualität zur Tradition, etwa auch für Familie und Freunde zu beten.
7. Warum Zeit in der Natur beim guten Altern hilft
Die Hochaltrigen in den fünf Zentren der Langlebigkeit beziehen ihr Essen noch aus der Natur vor ihrer Haustür. Einige fangen den Fisch für ihr Mittagessen selbst oder ernten das Gemüse im eigenen Beet. Ihr Leben spielt sich zu großen Teilen draußen ab, und die gute Luft ist nach ihren eigenen Aussagen ein Faktor für ihr Wohlbefinden.
Leider sind auch die Inseln der Langlebigkeit mit ihrem guten und einfachen Leben, das Sehnsucht wecken mag, bedroht. In Okinawa etwa hat der westliche Lebensstil längst Einzug erhalten und die Lebenserwartung sinkt. Jüngere nehmen hochverarbeitetes Essen von den neu zugezogenen Fast Food-Ketten zu sich, damit auch mehr Industriezucker, und sie nutzen öfter das Auto. Die Regionalregierung versucht zwar gegenzusteuern und fördert mit Kochschulen die traditionelle Kochkunst Okinawas. Doch: Mit den fitten und steinalten Vorfahren der jetzigen Generation könnte das Geheimnis dieser Blue Zone ebenfalls sterben.