Mit Babys sollte man lieber einmal zu viel als zu wenig zum Arzt gehen
Kinder, die in akuten Krankheitsfällen zu mir kommen, haben oft Beschwerden wie Husten, Halsschmerzen oder erhöhte Temperatur – meist harmlose Virusinfekte, die schon nach ein paar Tagen von selbst wieder verschwinden.
Dennoch untersuche ich jedes Kind sehr gründlich, damit ich nichts womöglich Ernsthaftes übersehe. Besonders bei Säuglingen sind ein genauer Blick und viel Fingerspitzengefühl erforderlich, denn sie haben weniger Reserven als größere Kinder und leiden daher etwa bei Erbrechen oder Durchfall schneller unter gefährlichem Flüssigkeitsverlust. Vor allem aber können sich Säuglinge noch nicht mit Worten äußern und haben oft weniger eindeutige Symptome als ältere Kinder.
Kürzlich hatte ich einen drei Monate alten Jungen bei mir, der zunächst keine besonderen Auffälligkeiten zeigte. Erst mithilfe eines Urin-Schnelltests konnte ich eine bakterielle Harnwegsinfektion feststellen, die im Krankenhaus mit Antibiotika behandelt werden musste. Ein älteres Kind hätte vermutlich über Schmerzen beim Wasserlassen geklagt. Der Säugling hingegen hatte noch nicht einmal Fieber, sondern sah einfach nur schlecht aus.
Gut, dass die Eltern ihrem Gefühl vertrauten und zu mir gekommen sind. Mit Babys sollte man lieber einmal zu viel als zu wenig zum Arzt gehen. Aber auch Kinder, die schon sprechen, können Beschwerden oft nicht so differenziert benennen wie Erwachsene. Klagt ein Kind etwa über Bauchweh, so kann das alles Mögliche bedeuten – denn häufig sind "Bauchschmerzen" nur ein Sammelbegriff für verschiedene Arten des Unwohlseins, ein Synonym für "Mir geht’s nicht gut".
Es ist daher wichtig für einen Kinderarzt, die Symptomschilderungen zwar stets ernst zu nehmen – aber auch zu bedenken, dass Bauchschmerzen längst nicht in allen Fällen auf einen Magen-Darm-Infekt oder eine Blinddarmentzündung hindeuten.
So stellte ich vor Kurzem bei einem Mädchen, das über "Bauchschmerzen" klagte, eine Lungenentzündung fest, nachdem ich mit dem Stethoskop die Lunge abgehorcht und die typischen Rasselgeräusche gehört hatte.

"Es ist schön, wenn Eltern ein Gespür für die gesundheitliche Verfassung ihres Kindes entwickeln"
Eltern sind für mich als Ansprechpartner sehr wichtig. Wenn sie ihr Kind und dessen Verhalten aufmerksam beobachten und Veränderungen beschreiben, hilft mir das bei der Diagnosestellung oft weiter. Auch bei der Untersuchung selbst können mich die Eltern unterstützen. Zum Beispiel, indem sie kleine Kinder im Behandlungszimmer schon ausziehen und in eine mitgebrachte Strickjacke oder Decke hüllen, bevor ich dazukomme. Das Entkleiden dauert gerade bei kranken Kindern oft recht lange und nimmt viel der ohnehin knappen Zeit in Anspruch. Das ist vor allem in der Infektsaison im Winter eine große Hilfe, wenn ich sehr viele Kinder am Tag behandle.
Aber auch in Zeiten großen Andrangs ist es wichtig, allen Kindern die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und sie so anzusprechen, dass sie sich wohlfühlen und sich nicht etwa vor dem Arztbesuch ängstigen. Selbst bei Säuglingen ist es gut, mit einer melodischen, freundlichen Stimme zu kommunizieren, denn schon für diese kleinen Patienten ist eine angenehme und vertrauensvolle Atmosphäre sehr wichtig.
Um das zweite Lebensjahr herum machen Kinder meiner Erfahrung nach oft eine Phase durch, in der sie schüchtern sind und skeptisch bei jeder Art von Behandlung. Meine Helferinnen lenken sie dann oftmals mit Stofftieren ab, und ich kann die kleinen Patienten besser untersuchen.
Eltern sollten bei der Untersuchung Ruhe ausstrahlen
Hilfreich ist es, wenn Mutter und Vater Ruhe ausstrahlen. Sind sie gestresst oder sehr besorgt, überträgt sich das schnell auf den Nachwuchs. Auch wenn das Kind bei den typischen Virusinfektionen, die mit Husten, Halsschmerzen und Fieber einhergehen, drei, vier Tage gleichbleibend krank ist, kann ich die Eltern meist beruhigen. Das ist völlig normal. Solche Infekte sind in der Regel harmlos und verschwinden nach ein paar Tagen von selbst.
In dieser Zeit können Eltern ihrem Kind mit einfachen Mitteln helfen, etwa für einen ruhigen Tagesablauf sorgen, ihm leicht verdauliche Kost anbieten, regelmäßig die Wohnung gut lüften, es bei Husten etwas erhöht schlafen lassen. Bei hohem Fieber oder Schmerzen dürfen Kinder durchaus auch Zäpfchen, Tabletten oder Fiebersaft bekommen. Wenn die Temperatur abends wieder ansteigt, gehört das meist zum normalen Krankheitsverlauf, wie auch Appetitlosigkeit. Wichtig ist in jedem Fall, dass ein Kind immer ausreichend trinkt.
Manche Eltern sind sehr auf das Fieber fixiert, haben geradezu Angst davor. Aber selbst eine höhere Temperatur ist für sich genommen kein Grund zur Besorgnis, sondern insbesondere im Kleinkindalter ein typisches Symptom – und eine normale Reaktion des Körpers, mit der er die Krankheitserreger bekämpft.
Wichtiger ist es, das Kind zu beobachten: Spielt es, zeigt es Interesse, lässt es sich ablenken? Manche Kinder spielen auch mit 40 Grad Fieber noch unbeeinträchtigt. Ein Alarmsignal ist es, wenn der Nachwuchs apathisch wirkt, über starke Schmerzen oder Nackensteifigkeit klagt, angestrengt atmet, oder wenn hohes Fieber über mehr als drei Tage anhält. Dann sollte ein Arzt aufgesucht werden.
Das gilt auch für den Fall, dass es einem Kind nach anfänglicher Besserung plötzlich wieder schlechter geht. Mir ist es sehr wichtig, dass die Eltern mit der Zeit immer mehr ein Gespür für das Befinden ihres Kindes entwickeln. Dann fühlen sie sich sicherer und müssen nicht wegen jeder Unpässlichkeit einen Arzt konsultieren.
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Generell ist es gut, wenn ein krankes Kind lieber zu lange als zu kurz eine Auszeit nimmt. Es sollte mindestens einen Tag fieberfrei und zwei Tage ohne Erbrechen oder Durchfall sein, bevor es wieder in Kita oder Schule geht. Hat ein Kind gar einen Infekt nach dem anderen, kann es ratsam sein, auch mal zwei Wochen am Stück daheimzubleiben, um wieder richtig zu Kräften zu kommen. Das ist nicht einfach für berufstätige Eltern, aber zahlt sich langfristig für die Gesundheit des Kindes aus.
Manche Eltern fragen sich, ob nicht mitunter die Gabe eines Antibiotikums notwendig wäre. Diese Mittel kommen bei mir selten zum Einsatz, denn meist handelt es sich um Erkrankungen, die durch Viren ausgelöst wurden, und da sind Antibiotika nutzlos. Das gilt auch für unkomplizierte Mittelohrentzündungen, die ich in der Regel mit schmerzlindernden Mitteln und abschwellenden Nasentropfen behandle und deren Verlauf ich kontrolliere.
Bei leichten Bindehautentzündungen helfen oft pflanzliche Augentropfen; es kann allerdings ein wenig länger dauern, bis die Reizung abklingt. Das Kind muss dann aufgrund der Ansteckungsgefahr daheimbleiben. Ich schlage trotzdem häufig vor, es zunächst ohne Antibiotikum zu versuchen. Sollte keine Besserung eintreten, können dann immer noch antibiotische Augentropfen gegeben werden.
Natürlich gibt es Krankheiten, bei denen sich Antibiotika nicht vermeiden lassen, etwa Scharlach oder Lungenentzündungen mit bakteriellen Erregern. Dann achte ich darauf, sie so gezielt wie möglich einzusetzen.
"Schwerwiegende Komplikationen nach Impfungen kommen sehr selten vor"
Ein wichtiges Thema ist das Impfen. Ich bin eine klare Impfbefürworterin und habe immer mal wieder mit Eltern zu tun, die dem Impfen kritisch gegenüberstehen – zum Beispiel weil im Bekanntenkreis Geschichten von Kindern mit einem angeblichen Impfschaden kursieren. Dann übersetze ich die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Impfen ausführlich in Alltagssprache und versichere den Eltern, dass Impfschäden extrem selten auftreten.
Jedes Kind wird vor einer Impfung gründlich untersucht – und wenn es eine akute Krankheit mit Fieber haben sollte, verschiebe ich die Impfung. Ich habe schon sehr viele Kinder geimpft und bislang noch nie eine ernsthafte Komplikation erlebt. Natürlich treten mitunter Impfreaktionen wie leichtes Fieber, Gliederschmerzen oder eine Rötung an der Einstichstelle auf – das ist normal und sollte kein Grund sein, auf eine Impfung zu verzichten.
Eltern müssen stets ein Vorbild sein
Bei vielen Kindern ist die psychische Verfassung ganz elementar für ihr Wohlbefinden. Probleme äußern sich oft in Symptomen wie Kopf- oder Bauchweh. Dann gebe ich den Kindern einen Bauch- oder Kopfschmerzkalender zum Selbstausfüllen. So helfen sie mir, das Auftreten und die Häufigkeit der Beschwerden besser einzuschätzen. In einigen Fällen braucht das Kind gerade etwas mehr Zuwendung von den Eltern. Oder die Lieblingserzieherin im Kindergarten ist weggegangen.
Zu meinem Alltag gehören auch die Vorsorgeuntersuchungen, die Auskunft darüber geben, ob sich ein Kind normal entwickelt. Etwa wie sich das Gewicht im Verhältnis zum Längenwachstum verändert. Wenn ich den Eindruck habe, dass ein Kind zu viel an Gewicht zulegt, ermuntere ich zu mehr Sport und Bewegung.
Manchmal bitte ich die Eltern auch, ein Ernährungsprotokoll zu führen, um gemeinsam zu überlegen, wo sich etwas verbessern ließe. Hier gilt es, realistisch zu bleiben. Tiefkühlpizza ist auch mal okay, aber dann zum Beispiel mit einem kleinen Salat dazu. Ich versuche, die Eltern ein wenig in die Pflicht zu nehmen, schließlich sind sie das wichtigste Vorbild für ihre Kinder – auch beim Medienkonsum.
Manche Eltern zucken regelrecht zusammen, wenn ich die Kinder frage, wie viel Zeit sie täglich vor einem Bildschirm oder dem Mobiltelefon verbringen; mehr als eine Stunde sollte es meiner Meinung nach nicht sein. Eine gewisse Überängstlichkeit zeigt sich bisweilen bei Eltern, die Entwicklungsverzögerungen bei ihren Kindern befürchten.
Sie kommen zu mir und möchten eine Verordnung für eine logopädische Behandlung, weil ihr Kind beispielsweise lispelt. Da rate ich meist zu Gelassenheit und Abwarten – Lispeln kann gerade im Vorschulalter ein ganz normaler Entwicklungsschritt sein. Erst wenn es sich mit der Zeit nicht bessert, ist der Gang zum Logopäden mitunter hilfreich.
Wenn Eltern eine Verordnung für einen Ergotherapeuten haben möchten, erinnere ich sie zunächst einmal daran, dass sie im Alltag selbst ganz viel tun können, um die Grob- und Feinmotorik ihres Kindes zu trainieren. Dafür gibt es das Konzept der sogenannten "Familien-Ergo": Die Eltern können das Kind im Haushalt helfen lassen, ihm kleine Aufgaben übertragen, wie zum Beispiel den Geschirrspüler auszuräumen, der Oma am Telefon eine Nachricht auszurichten oder allein zum Bäcker zu gehen, um Brötchen zu kaufen.
Ich bin sehr dafür, dass Eltern, wo immer es möglich ist, Eigenverantwortung übernehmen und nicht die Probleme an das Gesundheitswesen delegieren. Das stärkt die Eltern – und auch die Kinder, die in der Regel sehr stolz auf ihre kleinen Erfolge sind.

Auch bei ziemlich voller Patientenkartei nehmen wir neu hinzugezogene Familien auf. Aufmerksam werde ich allerdings, wenn im Vorsorgeheft für jede Untersuchung ein anderer Arzt unterschrieben hat. Haben sehr besorgte Eltern bereits andere Ärzte konsultiert, weil das Kind hustet oder Schnupfen hat, können sie manchmal nicht so recht akzeptieren, dass die Kollegen keine Antibiotika verordnet haben. Auch ich sage ihnen dann in vielen Fällen, dass wir es bei einer Behandlung der Symptome, sorgfältigem Beobachten und Abwarten belassen können.
Manche Eltern machen sich jedoch Sorgen, dass ihr Kind vielleicht eine Lungenentzündung oder Keuchhusten haben könnte – oder gar Lungenkrebs. Vor allem wer mit einer gewissen Grundbesorgnis im Internet nachschaut, findet natürlich selbst zu unbedenklichen Symptomen extrem seltene und schwere Krankheiten.
Meist kann ich die Eltern beruhigen. Die Kunst besteht für mich darin, angesichts der vielen, vielen harmlosen Fälle diejenigen nicht zu übersehen, bei denen tatsächlich etwas Ernstes vorliegt – beispielsweise eine Lungen- oder Hirnhautentzündung.
Zu den schönen Seiten meines Berufs gehört, dass die meisten meiner kleinen Patienten schnell wieder gesund werden. Als Kinderärztin begleite ich die Familien zumeist über viele Jahre – so darf ich miterleben, wie sich ihr Nachwuchs von einem Säugling zu einer selbstständigen Persönlichkeit entwickelt.