Neurowissenschaften Graue Substanz auf Schrumpfkurs: Wie eine Schwangerschaft das Gehirn verändert

Hirnscan mit eingefärbten Strängen
Die Stränge der Weißen Substanz bilden die Datenautobahnen im Gehirn. Sie verbinden Hirnareale miteinander. Während der Schwangerschaft werden sie vorübergehend ausgebaut
© Daniela Cossio
Zum ersten Mal haben Forschende engmaschig verfolgt, wie sich das Gehirn einer Frau während und nach der Schwangerschaft umstrukturiert. 26 MRT-Scans über fast drei Jahre zeigten: Das Volumen schrumpft, die Hirnrinde wird dünner. Doch das ist kein Verlust, sondern ein Vorteil

Die Schwangerschaft ist eine Zeit schneller und drastischer Veränderungen, die nahezu jeden Teil des Körpers erfassen. Angetrieben wird der Umbau von einem wahren Hormonrausch: Östradiol und Progesteron erreichen das Zehn- bis Tausendfache ihrer üblichen Konzentration. Blutmenge, Stoffwechselrate und Sauerstoffverbrauch steigen. Der Körper lagert Wasser ein, schiebt Organe zur Seite, stellt das Immunsystem neu ein, lockert Sehnen und Bänder. 

Es erscheint logisch, dass auch unser Gehirn in Erwartung neuer Aufgaben umgebaut wird, zumal Sexualhormone machtvolle Architekten unserer neuronalen Netzwerke sind. Doch tatsächlich wissen wir erstaunlich wenig darüber, was während der Schwangerschaft im Hirn geschieht. 

Vergangene Studien mit menschlichen Probandinnen vermaßen das Gehirn häufig nur vor und nach, nicht aber während der Schwangerschaft, um unnötige Untersuchungen zu vermeiden. Diese Arbeiten zeigten erstmals, dass Frauen nach der Geburt weniger Graue Substanz in der Großhirnrinde besaßen als zuvor. In dieser dünnen, aufgefalteten Schicht unseres Gehirns, auch Kortex genannt, sind höhere Denkleistungen angesiedelt. Eine große Studie aus dem Jahr 2023 fand heraus, dass die Spuren der Schwangerschaft im Gehirn noch zwei Jahre nach der Entbindung deutlich zu erkennen waren. Besonders vom Schwangerschaftsschwund betroffen zu sein schien ein Netzwerk, das für Selbstreflexion, soziale Kognition und Empathie zuständig ist. Es hilft uns, die eigenen Gefühle und Absichten sowie die anderer Menschen zu entschlüsseln. 

Ein kleineres Hirn ist nicht dümmer, sondern effektiver

Wichtig zu wissen ist: Ein schrumpfendes Gehirn oder eine dünnere Großhirnrinde bedeuten mitnichten, dass die geistigen Fähigkeiten nachlassen. Weniger Graue Substanz macht nicht dümmer. Im Gegenteil: Die gezielte Ausdünnung kann die Effizienz unseres Gehirns steigern und den Fokus auf Funktionen legen, die für den kommenden Lebensabschnitt besonders wichtig sind. Etwa die Signale des Babys stets im Blick zu haben, richtig zu deuten und umgehend darauf zu reagieren. Es gibt Anzeichen dafür, dass die elterliche Bindung umso enger ist, je stärker das Gehirn die Graue Masse in entscheidenden Regionen reduziert.

Im Januar 2024 schob ein Forschungsteam erstmals Frauen hochschwanger und kurz nach der Geburt in den Hirnscanner. Die Forschenden aus Spanien zeigten, dass sich der Kortex dynamisch verändert: Vor der Entbindung war sein Volumen vergleichsweise gering, nach der Entbindung nahm es zaghaft wieder zu. Bei Müttern, deren Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen waren, wuchs er schneller als bei Frauen, die eine vaginale Geburt hinter sich hatten. 

Nun hat ein Forschungsteam der University of California Santa Barbara eine gesunde Probandin erstmals während der gesamten Schwangerschaft und danach engmaschig begleitet. "Das mütterliche Gehirn durchläuft während der Schwangerschaft eine choreografierte Veränderung, und wir sind endlich in der Lage, diese Entwicklung zu beobachten", sagt Emily Jacobs, leitende Autorin der Forschungsarbeit.

Insgesamt 26-mal lag die Frau im Hirnscanner. Die ersten vier Aufnahmen wurden vor und während einer künstlichen Befruchtung (IVF) gemacht; damals war die Probandin 38 Jahre alt. Anschließend durchleuchteten die Forschenden ihr Gehirn vier Mal pro Schwangerschafts-Trimester. Weitere sieben Scans folgten in den zwei Jahren nach der Geburt. Die Aufnahmen wurden zur Kontrolle mit MRT-Scans von acht nicht schwangeren Personen verglichen, die über denselben Zeitraum hinweg angefertigt wurden. 

Das Volumen des gesamten Gehirns nahm ab der neunten Schwangerschaftswoche kontinuierlich ab, insgesamt um rund 20 Kubikzentimeter. 80 Prozent der 400 analysierten Hirnregionen bauten Graue Substanz ab, nicht nur im Kortex, sondern auch in darunter liegenden Bereichen. Vorangegangene Studien hatten bereits gezeigt, dass allein der Kortex rund fünf Prozent an Volumen verliert. Die Menge an Hirnwasser nahm hingegen zu, genau wie die Weiße Substanz. Sie liegt tiefer im Hirn und ermöglicht den Informationsaustausch der Hirnregionen untereinander. Doch der Gewinn an Weißer Substanz hielt nicht lange vor. Nach der Geburt war schnell wieder alles beim Alten. Welche Prozesse all dem auf Ebene der Nervenzellen zugrunde liegen, ist allerdings noch nicht bekannt. 

Ganz ähnliche Veränderungen, sowohl im Hormonhaushalt als auch im Gehirn, sind Forschenden bereits aus einer anderen Zeit der Umbrüche bekannt: aus der Pubertät. "Der beträchtliche Anstieg der Steroidhormon-Produktion scheint das Gehirn umzugestalten und eine Reihe von Verhaltensweisen zu fördern, die für die folgende Lebensphase von Vorteil sind", schreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift "Nature Neuroscience". Ihr nächstes Ziel ist, ähnliche Messungen mit einer großen und diversen Gruppe von Frauen durchzuführen. Nur so lassen sich allgemeingültige Erkenntnisse gewinnen – und vielleicht sogar Frühwarnzeichen für Gesundheitsprobleme wie Schwangerschafts- und Wochenbettdepressionen identifizieren. Der Erstautorin der Studie, Laura Pritschet, ist dabei eines wichtig: Sie will mit ihrer Arbeit das Dogma der "zerbrechlichen Schwangeren" überwinden. Dass selbst ein erwachsenes Gehirn einem so gewaltigen Umbau gewachsen ist, zeugt von beeindruckender Resilienz. 

Je dunker das Grau, desto stärker schrumpfte die Region der Hirnrinde während der Schwangerschaft. Besonders betroffen waren unter anderem Netzwerke, die unsere Aufmerksamkeit steuern
Je dunker das Grau, desto stärker schrumpfte die Region der Hirnrinde während der Schwangerschaft. Besonders betroffen waren unter anderem Netzwerke, die unsere Aufmerksamkeit steuern
© Laura Pritschet

Hauptursache für die Schusseligkeit und Vergesslichkeit, die viele Frauen während der Schwangerschaft und Stillzeit beklagen, ist die Umorganisation im Hirn vermutlich nicht. Ob "Baby Brain" überhaupt ein medizinisches Phänomen ist, bleibt umstritten. Einschränkungen des Erinnerungsvermögens sind lediglich während des letzten Trimesters belegt. Aber sie sind gering und vorübergehend. Sicher ist, dass sich vor und mit der Geburt eines Kindes die Prioritäten verschieben und viele neue Aufgaben hinzukommen. Auch Schlafmangel und der ständige Fokus aufs Baby lassen weniger geistige Kapazitäten für andere Aufgaben. 

Ein kleiner Trost für alle Schwangeren und frisch gebackenen Mütter, die an ihrem Verstand zweifeln: In der Lebensmitte sind die Gehirne von Müttern im Durchschnitt ein wenig jünger und besser vernetzt als die Gehirne kinderloser Frauen. Auf lange Sicht ist Nachwuchs anscheinend ein Vorteil für die geistige Fitness.