In einer Schlucht unter Bayern, 350 Meter tief in der Erde, hängt ein Seil. Nebelschwaden umhüllen es; geschmolzener Schnee tropft neben ihm aus dem Ungewissen herab. Von einer Felsspalte aus speit uns ein Wasserfall Gischtfahnen entgegen, die im Stirnlampenlicht wie Sternschnuppen aufblitzen. Eisiger Wind, klamme Finger. Drei Grad Celsius, Mitte Juni.
Ich wische Nässe und Lehm aus den Augen und starre dem Seil nach, das sich an der Steilwand des unterirdischen Canyons empor in die Finsternis windet. Eine Polyamid-Spur, lächerliche zehn Millimeter schwach, gefangen in Abertausenden Tonnen Gestein. Die Fasern sind aufgequollen, seine Geschmeidigkeit hat das Seil in Kälte und Dreck schon lange verloren.
Und an diesen geschundenen Strick soll ich mein Leben hängen? Ganz offenbar habe ich keine Alternative.
Weit und breit kein Felsvorsprung, an dem ich auch nur einen Meter emporklettern könnte. Kein verborgener Seitengang. Das Seil ist der einzige Ausweg zurück Richtung Sonnenlicht. Thomas Matthalm, mein Begleiter, der diesen Teil der Höhle vor ein paar Jahren zusammen mit seinen Speläologen-Freunden Marcus Preißner und Johann Westhauser entdeckt hat und seither dutzendfach mit ihnen in der Tiefe war, kramt einen Müsliriegel aus seinem Rucksack und hält ihn mir hin: "Könntest du brauchen, der Aufstieg wird lang", sagt er tiefenentspannt.
Ist nett gemeint, nur leider kann ich nicht einmal daran denken zu essen. Ich muss meine Panik in Schach halten. Fünf Stunden Aufstieg an Seilen wie diesem liegen zwischen uns und der Erdoberfläche. Der Untersberg, sechs Kilometer nördlich von Berchtesgaden, direkt an der deutsch-österreichischen Grenze: ein Kalkstein- und Dolomitmassiv, 1972 Meter hoch, das von Höhlengewölben durchlöchert ist. Den Sagen nach haben Zwerge und Wildfrauen dort in der Tiefe marmorne Schlösser erbaut und sie mit Silber- und Goldschätzen ausgeschmückt.

Auch Karl der Große und Kaiser Barbarossa wurden in Untersberg-Höhlen vermutet; dort, so hieß es einst, erwarteten sie schlafend die Schlacht, in der das Schicksal der Welt entschieden werde. Mystiker wiederum schreiben dem Berg magische Kräfte als "Zeitportal" zu. Vor allem auf österreichischer Seite haben Speläologen, die Erforscher der Unterwelt, tatsächlich fantastische Schattenreiche im Innern des Untersbergs aufgespürt: riesige Labyrinthe wie das mittlerweile auf 33 Kilometer kartierte "Gamslöcher-Kolowrat-System" etwa. Die deutsche Gebirgsseite aber blieb rätselhaft.
Vor gut zwei Jahrzehnten begannen Höhlenforscher der schwäbischen "Arbeitsgemeinschaft Höhlenkunde Bad Cannstatt" das zerklüftete Hochplateau systematisch abzusuchen. Der große Fund aber blieb ihnen verwehrt. Bis eine Gruppe von acht jungen Speläologen im Sommer 2002 in einem vergessenen Felstrichter ein Gangsystem von solch gewaltigem Ausmaß entdeckte, wie selbst Experten es niemals für möglich gehalten hätten: das "Riesending" - die mit Abstand tiefste Höhle, die jemals in Deutschland gefunden wurde. "Ein einzigartiger Volltreffer", sagt Thomas Matthalm. "Ein Monster. Ein Lebenswerk." Und tief in ihm stehe nun ich.
Mehr als 1000 Meter tief frisst sich das Riesending ins Alpengestein; bei jeder Expedition sind die Speläologen auf neue unterirdische Schächte, Hallen und Schluchten gestoßen. Die Erkundung der tiefsten Abgründe ist inzwischen so aufwendig wie die der höchsten Himalaya- Gipfel: Fast eine Woche müssen die Männer dafür in der Finsternis unterwegs sein. Sie haben sich eine Kette aus Biwakplätzen mit Schlafsäcken und Proviant eingerichtet und über 6000 Meter Seil verbaut, Hunderte Sicherungshaken gebohrt, mehr als 25 000 Euro an Materialkosten in die Erschließung der Gänge gesteckt.
Um ihre Expeditionen in Zukunft noch besser zu koordinieren und zumindest in Notfällen einen Hilferuf aus der Tiefe zur Oberfläche senden zu können, wollen die Entdecker, von GEO gefördert, nun ein besonderes Kommunikationssystem namens "Cavelink" in den Biwakplätzen des Riesendings installieren. Dies zu erproben war das Ziel unserer Tour, für die wir am Vortag zu viert bis zum "Lagerplatz 1" abgestiegen sind; drei andere Speläologen des Teams wollten derweil einen Seitenschacht in den oberen Höhlenteilen näher erkunden.
Unsere Mission war erfolgreich. Die technikversierten Marcus Preißner und Johann Westerhauser haben - nach mühsamer Suche im Reich der Frequenzen - eine sichere Funkverbindung vom Biwak zu ihrem Kollegen Wolfgang Zillig an der Oberfläche installieren können. Hunderte Meter tief in der Erde, weit jenseits der Reichweite von GPS-Geräten oder Mobiltelefonen, werden sie bei der nächsten Expedition über SMS-Kurznachrichten mit der Außenwelt kommunizieren können. "Ein erheblicher Sicherheitsbonus", meint Westhauser. Zum Beispiel, um rechtzeitig vor Gewittern gewarnt zu werden, die einen Höhlengang in nur wenigen Stunden komplett überfluten können.
Die Antenne des "Cavelink"-Systems, ein etwa 80 Meter langes Kabel, haben wir in den Gängen verlegt, sogar noch die Seile in einem tieferen Schacht auf Steinschlagschäden geprüft, bevor uns schließlich der Schlaf überfiel. Eingepackt in zwei Lagen aus Schlafsäcken, waren wir in zugiger Dunkelheit eingedöst. Haben Käsenudeln zum Frühstück geschlürft. Und jetzt, notdürftig ausgeruht, müssen wir "nur" noch zurück.
Aber wie? Um aus senkrechten, vom Wasser glatt geschliffenen Schächten wie jenen des Riesendings wieder herauszukommen, nutzen Speläologen Metallklemmen, die mit winzigen Widerhaken bewehrt sind. Hat man zwei solcher Steighilfen, kann man ein Seil wie eine Leiter "hinaufgehen": Während eine der Klemmen das Körpergewicht hält, kann die andere entlastet und weiter nach oben geschoben werden.
Bei einer früheren Höhlenexpedition in den USA (siehe GEO 03/2009) habe ich diese Technik schon kennengelernt. Nur: Die Schluchten des Riesendings sind von anderem Kaliber. Sie ragen so kolossal hinab in die Tiefe, dass die Höhlenforscher gezwungen waren, ihre Seile an mehreren "Zwischenstationen" am lotrechten Fels anzubringen. An diesen Stellen werden wir während des Aufstiegs frei schwebend immer wieder von einem Seil auf ein anderes umsteigen müssen - ohne uns an einem Wandvorsprung abstützen zu können. Wer im Seilgewirr Fehler macht, stürzt hier ohne Halt in die Finsternis.
Lässt sich ein Fehler bei Stirnlampen-Dämmerlicht wirklich ausschließen? Schon die ersten Meter des Aufstiegs sind eher entmutigend. Noch am Boden der Schlucht stehend, zerre ich nervös am Seil, doch es dehnt sich so sehr, dass ich keinen Zentimeter emporklettern kann. Dann erst greifen die Steigklemmen - und ich beginne zu schweben. Stück für Stück aufwärts. Keuchen, fluchen. Zehn Züge. Pause. Weiter. Riesige Wandüberhänge tauchen im Licht der Stirnlampe neben mir auf. Seitenschächte im Unbekannten. Steinnasen, faltige Schrumpelköpfe. Gesichter aus Kalk. Sie ziehen vorbei.
Die monotone Bewegung am Seil zwingt zum Nachdenken. Leider. Ich will jetzt nicht denken, nicht zu viel jedenfalls. Will mir nicht genau ausmalen, welche Strapazen uns noch erwarten. Und was passieren könnte. Ein Autofahrer stellt sich wohl auch nicht vor, was geschähe, wenn er bei Tempo 200 das Steuer verrisse. Grübeln schlaucht.
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Doch ich kann nicht anders: Es ist, als nötigte mich die Finsternis, in mich selber hineinzuhorchen. Die Gefahren der Tiefe. Ein winziger Ausrutscher bloß in dem nassen Gestein. Ein Block, der sich löst. Ein gebrochenes Bein - und dann? Die besten Bergretter und Speläologen Europas müssten zusammengetrommelt werden, um einen Verletzten aus dem Riesending zu bergen. Und selbst sie wären machtlos, wenn ein Felssturz die unteren Schächte verschütten, ein Hochwassereinbruch im falschen Moment eine Engstelle überspülen würde. Die Cannstatter kennen das Risiko. Es darf nichts passieren, sagen sie. Mehrmals aber haben sie die Kräfte der Unterwelt schon zu spüren bekommen.
Im Lager 1 etwa schliefen sie, als plötzlich die Höhlenwand zu vibrieren begann, weil durch tiefer gelegene Gänge Schmelzwasserströme schossen. Bei einer anderen Expedition brach eine tosende Wasserwalze in eine Schlucht ein, in der noch zwei von den Speläologen am Seil hingen. Sie sind keine Wissenschaftler, die dafür bezahlt werden, in der Unterwelt sonderbare Mikroben oder geologische Wunderwerke zu finden. Auch glauben sie nicht an die Sagen von Energiefeldern oder Zauberkräften im Berg. Sicher, die Tiefe habe durchaus eine eigenartige Sogwirkung, findet Matthalm: Nur könne er daran nichts Mystisches finden. Man sei einfach weit vom Alltag mit all seinen Turbulenzen entfernt. So weit, dass "man die Stille als Last spüren" könne. Und dass Windböen und Wasserfälle wie Stimmen klängen.
Nur: Wenn weder wissenschaftliche Neugier noch Mystik die Speläologen hinab in die Tiefe ziehen - weshalb tun sie sich dann diese Kälte, die Nässe, die Dunkelheit an? Den Kampf gegen die Furcht? Was treibt sie dazu, schon seit Jahren immer weiter in Gänge und Schächte des Riesendings vorzudringen? Sie sind Manager, Ingenieure, Geodäten und Bauphysiker, zwischen 30 und 50 Jahre alt. Wochentags sitzen sie in Büros, viele haben Familie.
Es fällt ihnen schwer, wenigstens zwei- oder dreimal im Jahr in der kurzen Saison zwischen Juni und Ende Oktober, in der das Riesending schneefrei ist, Zeit für eine gemeinsame Expedition zu finden. Sie tun es trotzdem - weil sie von der Aussicht gepackt sind, selbst im 21. Jahrhundert in Deutschland noch ein Stück Neuland entdecken zu können. Terra incognita in einer Weltgegend, in der pro Quadratkilometer durchschnittlich 231 Menschen siedeln und in der "Wildnis" ein Kleinod geworden ist. "Höhlenforschung ist die Raumfahrt des kleinen Mannes", hat Matthalm einmal gesagt. Eines der letzten Refugien unserer Zeit für die puristische Sehnsucht nach Welten, in die vor dir noch niemals ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat.
320 Meter. Ich bin glücklich in einer Felsnische angelangt, die eine kurze Rast von der Seilarbeit bietet, als über mir Schreie hallen: "Stein! Achtung! Stein!" Und dann kommt er geflogen: Ein Felsklotz in Bierkastengröße rauscht fünf Meter neben mir wie ein Meteorit in den Canyon, in dem Matthalm und Westhauser noch in den Seilen hängen. Man hört ihn krachend zerschellen; ein paar kleinere Brocken prasseln als Nachhut dem Bombardement hinterher. Für atemlose Sekunden herrscht Stille.
"Alles ... o ... kay!", tönt es schließlich herauf. Der Klotz, den Preißner aus Versehen gelöst hatte, ist an allen vorbeigeflogen. Aber was wäre gewesen, wenn ...? "Eine Schönheitsoperation brauchst du dann nicht mehr", sagt Matthalm, als er das Felsband erreicht.
300 Meter. Wir haben den Hauptschacht erreicht: einen Canyon des Untergrunds, in dem man den Turm des Ulmer Münsters verstecken könnte. Satte 180 Meter tief fallen die Schluchtwände schmirgelglatt durch die Finsternis; nur ein einziges, etwa ein Meter breites Felsband, von Schnee überzogen, unterbricht ihren Lauf. Der Schacht ist so groß, dass meine Stirnlampe nicht einmal ansatzweise die kristallüberzogenen Wände auszuleuchten vermag. Von Preißner und Westhauser, die vorgestiegen sind, sehe ich bald nur noch flackernde Lichter, die wie Gestirne am Nachthimmel funkeln. Finsternis unter mir, über mir, neben mir. Es ist, als schwebte ich durch die Leere der Tiefsee.
16 Zwischenstationen gilt es im Hauptschacht zu überwinden. Jede macht mich nervös; und an jeder prüfe ich meine Handgriffe drei-, manchmal viermal. Immerhin, es geht aufwärts. 260 Meter. 230. 200. Die Kräfte schwinden, die Müdigkeit wächst. Immer länger die Pausen, immer zögerlicher das Tempo. Ich muss wieder verschnaufen, hänge im Bodenlosen - und bestaune die Wand. Wie viele Jahrtausende mag das Wasser gebraucht haben, um diese riesige Schlucht auszuspülen? Welch mächtige Ströme müssen es gewesen sein? Und wenn sie zu solchen Gewalttaten fähig waren, wie tief werden sie dann in die unteren Erdschichten gedrungen sein? Wie weit ist das Riesending-Labyrinth noch verzweigt?
Fragen wie diese gehen auch den Cannstattern nicht aus dem Kopf. Vor allem Thomas Matthalm und Ulrich Meyer, der Spiritus rector des Teams, brüten zu Hause oft bis tief in die Nacht über ihren Vermessungsdaten. Prüfen die Aufzeichnungen von den Expeditionen. Suchen in Luftaufnahmen und Karten nach Indizien für geologische Sollbruchstellen, an denen sich neue Schächte verbergen könnten.
In Färbeversuchen haben Speläologen herausgefunden, dass die Schmelzwasserflüsse des Riesendings, wie alle unterirdischen Ströme des Untersbergs, nach Nordwesten verlaufen. Dorthin, wo die Fürstenbrunner Quellhöhle, bis 1998 noch wichtigste Wasserversorgung von Salzburg, an der Bergflanke austritt.
Bis zum Niveau dieses Karstwasserspiegels, also "mindestens 50, vielleicht sogar 100 Meter tiefer", meint Meyer, könnte Deutschlands Rekordhöhle noch in die Erde hineinreichen. Ihre Länge hingegen ist schwieriger abzuschätzen. Es gibt nur Indizien dafür: Radon-Isotope zum Beispiel, die das Team in den tiefsten Regionen der Höhle gemessen hat. Diese Luftbestandteile ändern sich, wenn sie längere Zeit unter Tage stehen - und geben so einen Hinweis auf die tatsächliche Höhlengröße. Das Ergebnis: Wahrscheinlich ist erst ein Drittel des Riesendings bislang kartiert.
Möglicherweise, so vermutet das Team, existieren Verbindungsgänge zu anderen Untersberg- Höhlen, vielleicht sogar andere Eingangsschächte. Man muss sie nur finden. 180 Meter. Die letzten fünf Seillängen. Bis zum Felsabsatz ist es nun nicht mehr weit. Irgendwo in der Ferne der Schlucht prasseln Steine. Ich blicke die Wand hinab: Matthalm müsste im nächsten Seil unter mir klettern. Doch er ist nirgends zu sehen. "Thomas?", frage ich in die Nacht und versuche die Vorstellung zu verdrängen, dass dasRiesending einen Menschen vielleicht einfach verschluckt. "Ja, ja. Alles klar!", hallt eine Stimme zurück.
"Meine Lampe hat den Geist aufgegeben. Hast du deine Ersatzlampe griffbereit, meine ist noch im Rucksack?" Wie ruhig er wirkt. In einem Sicherungskarabiner der Wand lasse ich meine Reserve-Stirnlampe hängen. "Danke!", schallt es irgendwann unter mir. Klar. Dafür nicht. Kein Problem. Ich bin mit meinen Nerven am Ende.
90 Meter. Das Finale wird eng: In dem Schachtlabyrinth, in dem die letzten Seile des Riesendings sich verwinden, ragen Schneebalkone ins Leere hinaus, Schmelzwasser hagelt in immer stärkeren Salven. Die Schlote verdichten sich zu bedrückenden Spalten. Schieben und pressen, den Körper verklemmen, Seilsicherung nicht vergessen, Rucksack nachziehen. Senkrechter Kriechgang. 30 Meter. Ich sehe Licht. Keine Kälte mehr, meine Fleecekleidung ist völlig durchgeschwitzt, mein Overall lehmverschmiert, voller Risse.
Meine Arme sind taub. Ein paar winzige Aufschwünge noch. "Man geht nur in Höhlen, wenn man die Sonne liebt", lautet ein Sprichwort der Speläo-Szene. Und vielleicht ist es wahr. So wie Bergsteiger Gipfel erklimmen, klettern Tiefenberauschte auch deshalb hinab in die Unterwelt, weil sie nach ihrer Rückkehr das Leben in bunteren Farben wahrnehmen. Die Windböen, die Wärme, die Pflanzen, das Tageslicht. All das, was wir gemeinhin als selbstverständlich erachten.
Anfang November, halb zehn Uhr am Abend. Auf meinem Mobiltelefon geht eine Kurznachricht ein: "Haben jetzt weiteres Neuland vermessen. Gesamtlänge jetzt: 12 800 Meter. Steigen morgen auf." Die Botschaft aus dem Untergrund: Das Riesending ist nun nicht nur die tiefste, sondern auch die längste Höhle in Deutschland. In Gedanken gratuliere ich. Komisch. Ich wäre jetzt gern dort unten.