Es muss um die Jahrtausendwende passiert sein: Im Chicagoer Stadtteil Roscoe Village hatten Arbeiter gerade den Beton für einen Gehweg gegossen – als ein unglücklicher Nager hineinfiel. Und dabei einen wahrhaft ikonischen Abdruck hinterließ.
Anfang 2024 gelangte die Vertiefung zu Berühmtheit, nachdem der Chicagoer Comedian Winslow Dumaine ein Foto davon auf X (damals noch Twitter) gepostet hatte. Das Chicago rat hole ("Rattenloch"), scherzhaft auch "Splatatouille" genannt, ging viral. Touristen pilgerten in den eher unspektakulären Stadtteil, sogar Hochzeiten sollen vor dem Loch abgehalten worden sein. Die New York Times schrieb gar vom "Chicagoer Stonehenge".
Doch unter Anwohnerinnen und Anwohnern, unter Internetnutzenden und Wildtierfachleuten gab es von Anfang an Zweifel an der Geschichte. Genauer: an der Urheberschaft einer Ratte. Und Uneinigkeit darüber, ob das Tier den Unfall – oder was es auch immer war – überlebt hatte.
Grund genug für ein sechsköpfiges Forschungsteam, den Fall, beziehungsweise den Abdruck, der inzwischen im Rathaus der Stadt aufbewahrt wird, unter die Lupe zu nehmen.
Im Fachmagazin "Biology Letters" berichten die Forschenden von ihren – erstaunlichen und ernüchternden – Ergebnissen. Das Erstaunliche: Was als rat hole bekannt und berühmt geworden ist, stammt mit großer Sicherheit nicht von einer Wanderratte (Rattus norvegicus).
Das Team vermaß die Körper- und die Fingerlänge, die Breite des Kopfes und der Schwanzbasis und verglich sie mit den in der Region vorkommenden Tierarten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,67 Prozent, so schreiben die Forschenden, stamme der Abdruck von einem Hörnchen. Von welcher Spezies, muss allerdings unentschieden bleiben. Mit fast gleich hoher Wahrscheinlichkeit (51 zu 48 Prozent) handelt es sich bei dem eindrucksvollen Tier entweder um ein Östliches Grauhörnchen (Sciurus carolinensis) oder ein Fuchshörnchen (Sciurus niger).
Vermutlich beim Sprung von einem Ast gefallen
Zum möglichen Unfallhergang schreiben die Autoren: Es sei zwar möglich, dass eine Wanderratte von einem Greifvogel fallen gelassen wurde. "Aber viel wahrscheinlicher ist, dass ein Eichhörnchen trotz seiner Beweglichkeit einen Sprung falsch eingeschätzt hat oder von einem Ast gerutscht und heruntergefallen ist, wodurch dieser Eindruck entstanden ist." Für diese Thesen sprächen zudem Untersuchungen, denen zufolge Grauhörnchen in städtischen Umgebungen weit häufiger verheilte Knochenbrüche aufweisen als ihre ländliche Verwandtschaft.
Der ernüchternde Teil der Studie bezieht sich auf das Schicksal des Nagers: Demnach hat er den Unfall wohl nicht überlebt. Es gebe einfach keine Anhaltspunkte dafür, dass der unglückliche Spurenverursacher nach seinem Sturz davonlief, heißt es in dem Paper.
Das Team will seinen Beitrag nicht als bloßen Jux verstanden wissen: "Wir hoffen, dass diese Arbeit – trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer inhärenten Leichtigkeit – sowohl bei der Öffentlichkeit als auch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Anklang findet und zeigt, dass wissenschaftliche Forschung nicht auf Labore beschränkt sein oder mit unverständlicher Fachsprache belastet sein muss." Im Kern erfordere Wissenschaft lediglich Neugier – und den Willen, die uns umgebende Natur zu verstehen.