Es ist Sonntag, der 24. Juli 1932, um acht Uhr in der Früh. Gut 8000 Wanderfreunde drängen sich auf den Bahnsteigen am Hauptbahnhof von Sydney. Sie alle wollen eines der begehrten Zugtickets ergattern – obwohl niemand weiß, wo es überhaupt hingeht.
Auf den Gleisen stehen "Mystery Trains" bereit, für eine Fahrt ins Ungewisse: Die Dampflokomotiven befördern Stadtmenschen aufs Land, wo sie an einem Überraschungsziel die ihnen unbekannte Natur erkunden und abends wieder nach Sydney fahren – eine Wandertour mit Nervenkitzel. Anfang der 1930er-Jahre entwickeln sich diese "Mystery Hikes" zu einem Massenphänomen, vor allem in Australien, Neuseeland und England.

Wandern liegt in jener Zeit im Trend: Die weltweite Wirtschaftskrise stürzt Menschen überall in Ungewissheit und Geldsorgen – eine günstigeren Freizeitspaß gibt es kaum, Wandervereine boomen. Und so starten an jenem 24. Juli am Bahnhof von Sydney insgesamt elf Züge mit bis zu 14 Waggons. Erst bei der Abfahrt wird der Zielort gelüftet: Dieses Mal geht’s Richtung Norden ins gut 40 Kilometer entfernte Örtchen Cowan. Erst hier erhalten die Wanderer und Wanderinnen Karten – und einen Auftrag: So sollen entlang einer alten, nicht mehr genutzten Autostraße und eines Flusses zehn Kilometer bis nach Brooklyn laufen.
Für einen Ausflug in die Wildnis sind die meisten Abenteuerlustigen denkbar schlecht gerüstet: "Die Mädchen trugen bunte Kostüme, einige trugen Männerkleidung", berichtet der "Sydney Morning Herald" am nächsten Tag. Historische Fotos von "Mystery Hikes" zeigen Frauen mit Röcken und Strümpfen, in Riemchenballerinas. Und manche Männer wollen auch beim Wandern nicht auf Hemd und Krawatte verzichten.
Bei den Ausflügen gehören Tee- oder Kaffeepausen oft zum Programm, im Juli 1932 in Australien auch ein Picknick und ein Open-Air-Gottesdienst. In einem Halbkreis auf Decken im Gras sitzend, lauschen die Wanderer der Predigt, setzen ihren Weg dann über einen Aussichtspunkt mit Blick auf den Hawkesbury River zum Ziel Brooklyn fort. Unterwegs können sich die Ausflügler kaum verirren – schließlich marschieren 8000 Menschen die gleiche Route. Ab 17 Uhr bringen die "Mystery Trains" die Naturfreunde von Brooklyn aus schließlich zurück nach Sydney.
In England fahren die Ausflugszüge etwa vom Londoner Bahnhof Paddington nach Oxfordshire oder Berkshire, wo die Wanderer durch die Wälder und Felder streifen – und abseits des Großstadt-Molochs frische Luft einatmen können. In Neuseeland finden vor allem Wander-Rundkurse statt, die mit 16 Kilometern deutlich länger sind als der Trip in Australien.

Allerdings sehen längst nicht alle Zeitgenossen das Phänomen der "Mystery Hiker" mit Freude. Sollten die Menschen am heiligen Sonntag nicht lieber im Gottesdienst den Herrn preisen, anstatt zu picknicken? Manche Pastoren jedenfalls sehen sich ihrer Kirchgänger beraubt – von profitgierigen "Mystery Train"-Veranstaltern, die Gläubige mit Kaffee und Tee in die Wildnis locken.
Und nicht nur das: Zuweilen arten die Gemeinschaftsausflüge aus – dann gibt es Live-Musik, Alkohol und Zigaretten. Kein Wunder, dass der "Sydney Morning Herald" die "Mystery Hikes" als "Party" beschreibt. 1932 lässt sich in Australien ein Paar während eines solchen Ausflugs sogar trauen und feiert anschließend in freier Natur mit hunderten Wanderern. Auch die Sitten verlottern offenbar: Männer ziehen ihre Hemden mitunter komplett aus und spazieren oben ganz ohne, empört sich eine Zeitung in Neuseeland. Zudem lassen die Abenteurer massenhaft Müll und zertrampelte Natur zurück.

Das eigentliche Rätsel der "Mystery Hikes", so schimpft der Berichterstatter einer australischen Zeitung 1933, sei, ob "es jemals möglich sein wird, Hunderte von Menschen mitzunehmen, ohne eine breite Spur von Papiertüten und Bananenschalen zu hinterlassen?".
Ein paar Jahr später ist der Trend vorbei: Der Zweite Weltkrieg setzt den ausgelassenen Touren ein jähes Ende.