GEO WISSEN: Herr Professor Lehmann, Herr Professor Brügelmann, seit Jahren gibt es Streit darüber, wann Kinder auf eine weiterführende Schule wechseln sollen. Lässt sich diese Frage wissenschaftlich beantworten?
Rainer Lehmann: Das kann man bis heute nicht abschließend entscheiden. Viel mehr als auf vier oder sechs Jahre kommt es auf die Qualität des Unterrichts in der jeweiligen Klassenstufe an. Bildungsforscher waren lange Zeit der Meinung, dass Änderungen an den Schulstrukturen ohnehin nur wenig bewirken. Erst in Reaktion auf die schlechten PISA-Ergebnisse wurden hierzulande Stimmen für eine sechsjährige Grundschule laut: Die Kinder würden dann mehr lernen und die soziale Herkunft nicht mehr eine so große Rolle für den Schulerfolg spielen. Ich halte die Argumente für nicht schlüssig. Man kann mit vier wie mit sechs Jahren gut leben.
Hans Brügelmann: Aber mit sechs Jahren wahrscheinlich besser! Im Übrigen trennt kein anderes vergleichbares Land mit Ausnahme Österreichs seine Schüler so früh wie wir. Richtig ist: Strukturänderungen sind kein Allheilmittel – aber falsche Strukturen können sehr wohl hinderlich sein. Das ist seit der Weimarer Republik ein Dilemma der Grundschule. Sie soll die Kinder zwar fördern, aber sie soll sie auch selektieren: Wer geht später wohin? Das fängt spätestens in der 3. Klasse an; in der 4. Klasse geht es in Bayern bei den Noten sogar um Stellen hinter dem Komma. Da ist schon zu fragen: Wie können wir es hinbekommen, dass die Kompetenzentwicklung des Kindes im Vordergrund steht? Und nicht: Was geschieht, wenn mein Kind keine Gymnasialempfehlung bekommt?
GEO WISSEN: In Hamburg wird die sechsjährige Grundschule nach langem politischem Streit nun eingeführt. In Ihrer Berliner „Element“-Studie, Herr Professor Lehmann, befürworten Sie dagegen einen frühen Wechsel ans Gymnasium.
Lehmann: Wenn man schon sechs Jahre Grundschule will, sollte man es klug anstellen. Das ist aber in Hamburg nicht der Fall. Nur zwei Beispiele: Die Bildungssenatorin Christa Goetsch hat die Sorge, dass angesichts des Andrangs an die Gymnasien zu wenig Schüler für die geplanten Stadtteilschulen – in denen die jetzigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammengefasst werden – übrig bleiben. Daher sollen die Berufsfachschulen und Fachgymnasien verschwinden. Das heißt aber: Gute Schüler aus nichtgymnasialen Zügen haben weniger Chancen, sich berufsorientiert weiterzuqualifizieren.
Wer als Bildungsplaner später eine breite Leistungsspitze haben will, sollte dafür sorgen, dass gute Schüler möglichst früh ans Gymnasium wechseln können. Dort lernen sie in relativ homogenen Gruppen mehr als andernorts. Mittelmäßig leistungsfähige Schüler dagegen profitieren von lernschwächeren Gruppen: mit größerem Selbstwertgefühl, wahrscheinlich auch mit größerem Lernerfolg.
HINTERGRUND
Kurz vor der Entscheidung Hamburgs, die sechsjährige Grundschule einzuführen, wurde die Berliner „Element“-Studie bekannt. Demnach haben Kinder, die bereits nach vier Jahren aufs Gymnasium wechseln, in Lesen und Mathematik einen großen Lernvorsprung gegenüber Schülern, die sechs Jahre die Grundschule besuchen. Eine Analyse des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ergab dagegen: Der Wechsel schon nach vier Jahren führe nicht zu einer besseren Förderung besonders leistungsfähiger Schüler. Es gebe daher keine wissenschaftlichen Argumente für oder gegen eine verlängerte Grundschulzeit.
Brügelmann: Von homogenen Leistungsgruppen am Gymnasium kann doch nirgendwo die Rede sein, so früh wir auch trennen. Selbst zu meiner Schulzeit, als drei große 6. Klassen über die Jahre zu zwei kleinen schrumpften, gab es noch in der Abiturklasse große Unterschiede. Und Ihre eigene Studie hat gezeigt, dass die Lernfortschritte beim Lesen in den heterogenen Grundschulklassen 5 und 6 größer sind als in den Gymnasialklassen.
Lehmann: Die Gymnasien in Deutschland sind längst nicht so gut, wie sie sein könnten. Aber insgesamt waren, wie unsere Studie zeigt, die Berliner Gymnasiasten nach den Klassen 5 und 6 leistungsmäßig deutlich besser als Grundschüler, vor allem in Mathematik, und zwar um etwa zwei Schuljahre.
Brügelmann: Das wäre nicht einmal ein Wunder, denn es ist ja sozial gesehen die „Crème de la Crème“ der Kinder, die aufs Gymnasium wechselt. Eine neue Auswertung der Daten Ihrer „Elemente“-Studie durch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat Ihre Schlussfolgerungen zumindest in Zweifel gezogen; es sei bei vergleichbaren Voraussetzungen praktisch kein Unterschied festzustellen, hieß es.
Aber unabhängig davon: Ich frage mich, was überhaupt der Maßstab für den Lernerfolg ist. Die Testergebnisse und Noten am Ende der Schulzeit? In manchen ostasiatischen Ländern zeichnet sich die Spitze zwar durch sehr gute Kompetenzen in Orthographie oder Pflichtbewusstsein aus. Aber wenn es darum geht, selbst etwas zu gestalten, sieht es anders aus. Ich habe meine Söhne ganz bewusst auf eine Gesamtschule geschickt. Fachlich haben sie dort zwar nicht das gelernt, was sie anderswo hätten lernen können. Aber sie haben andere wichtige Dinge mitbekommen, vor allem, sich selbst zu organisieren.
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GEO WISSEN: Das klingt so, als wollten Sie es ihnen künstlich schwer machen.
Brügelmann: Nein, ich wollte ihnen die Chance geben, sich möglichst breit zu entwickeln. Dass sie – überspitzt gesagt – nicht in einer Belehrungsanstalt unmündig gehalten werden. Ich habe den Eindruck, Kinder in Deutschland lernen oft rein zweckorientiert, auf kurzfristige Ziele hin, von denen wir zwar hoffen, dass sie wichtig sind für ihre zukünftige Entwicklung, es aber nicht wissen.
Lehmann: Ein Kind kann durchaus auch in einer leistungsstarken und -homogenen Gruppe lernen, sich selbst zu organisieren. Aber ich stimme zu, in Deutschland glauben wir zu sehr an die Macht von Noten und Bildungszertifikaten. Wer einen guten Abschluss hat, verdient hinterher auch meist gut. Über die Kompetenzen sagt das nicht allzu viel aus.
Brügelmann: Hinzu kommen die sozialen Einflüsse. Wenn wie heute überproportional viele Kinder aus höheren sozialen Schichten aufs Gymnasium gehen, ist deren größerer beruflicher Erfolg nicht nur den Zertifikaten zu verdanken, sondern auch ihrer Herkunft und den Kontakten, die sie haben. Man hat mir als Kind immer erzählt, das humanistische Gymnasium habe so viele Nobelpreisträger hervorgebracht. Das stimmt, aber wer schickt seine Kinder auf ein humanistisches Gymnasium?
GEO WISSEN: Nun soll die Einführung der sechsjährigen Grundschule in Hamburg auch helfen, die viel beklagte soziale Selektivität des Schulsystems zu vermindern. Kann das tatsächlich gelingen?
Lehmann: Das Gegenteil wird eintreten. Denn geplant ist ja ein Zwei-Etagen-Modell: also die Aufteilung in die Klassen 1 bis 3 als eine Art Grundstufe und in die Klassen 4 bis 6, in denen an der Grundschule Fachunterricht unter Beteiligung von Lehrern aus weiterführenden Schulen erteilt wird. Dafür soll eine Grundschule eng mit einer weiterführenden Schule zusammenarbeiten.
Wozu führt das? Einige Grundschulen werden natürlich mit Gymnasien kooprieren, andere mit den Stadtteilschulen. Welche Grundschulen werden dann wohl von den Eltern von Erstklässlern bevorzugt? Natürlich jene, die mit Gymnasien kooperieren. Das aber heißt, die Entscheidung über die weiterführende Schule wird nicht nach hinten verlagert, sondern noch weiter nach vorn. Plötzlich spielt schon die Wahl der Grundschule eine entscheidende Rolle. Um ihre Kinder auf die „richtige“ Schule zu bringen, werden manche Eltern nichts unversucht lassen, und wenn sie sich dafür ummelden müssen.
Brügelmann: Das ist in der Tat ein Problem. Man hat in Hamburg ein System konstruiert, das sehr kompliziert ist, weil es CDU und GAL – die zwei Partner in der dortigen Koalition – halbwegs zufrieden stellen muss, zudem auch Eltern und Lehrer. Das war dann mit Ach und Krach politisch durchsetzbar, aber alles andere als optimal. Da wäre es besser, sogar bis zur 8. oder 10. Klasse gemeinsam zu lernen, den Unterricht in den Klassen aber stärker zu öffnen für individuelle Interessen und Fähigkeiten – und für ein Mit- und Voneinander-Lernen.
Lehmann: Soziale Einflüsse lassen sich aber niemals ganz ausschalten. Wir haben ja den jahrzehntelangen Vergleich zwischen Hamburg mit der bislang vierjährigen Grundschulzeit und Berlin mit der sechsjährigen. Die soziale Selektion ist hier wie dort immer noch gleich groß. Es gibt ganz klare Grenzen in Berlin: In bestimmten Gegenden wohnen sozial Bessergestellte, in anderen sozial schwache Milieus. Das spiegelt sich in den individuellen Fördermöglichkeiten durch die Eltern wider, in der Leistungsstärke der Klassen und schließlich in den Übergangsquoten ans Gymnasium.
Brügelmann: Eine Garantie gibt es natürlich nicht. Aber die Chancen auf mehr Gerechtigkeit steigen, wenn Kinder länger gemeinsam lernen und wir sie nicht in drei, vier Schubladen stecken, obwohl ihre Leistungsprofile variieren und ihre Entwicklungsrhythmen nicht vorhersagbar sind. Hinzu kommt, dass Schule nicht nur ein Ort fachlichen Lernens sein sollte, sondern auch ein Ort des Zusammenwachsens der Gesellschaft. Schule ist heute die einzige Institution, an der alle Menschen zumindest zeitweise über die Grenzen der Milieus hinweg zusammenkommen. Auch das spricht für eine längere gemeinsame Schulzeit.
Lehmann: Ein Journalist, der mich wegen meiner Überzeugungen einmal als „Sozialrassisten“ bezeichnet hat, musste kürzlich in einer Talkshow öffentlich einräumen, dass er aus Berlin-Wedding weggezogen sei, weil er seinen Kindern nicht zumuten wollte, in einer Klasse mit 80 Prozent Migranten zu lernen. Plötzlich erscheint ihm dies – wie vielen anderen – offenbar als eine berechtigte Überlegung von Eltern.
Brügelmann: Aber es gibt auch Schulen wie die Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund, die den Deutschen Schulpreis bekommen hat. Dort sind die Lehrer in der Lage, ganz unterschiedlich entwickelte Schüler individuell zu fördern, sie an ganz unterschiedlichen Themen arbeiten zu lassen. Davon muss es mehr geben. Wenn ich aber ein Belehrungs-Modell von Unterricht habe, dann komme ich mit solchen Situationen natürlich nicht klar. Dann bestimmt das langsamste Glied das Tempo der ganzen Klasse. Das darf nicht sein.
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GEO WISSEN: Was ist heute das letztlich Entscheidende für den Bildungserfolg eines Landes?
Lehmann: In hohem Maße das außerschulische Umfeld. In Finnland war die Reform des Schulwesens Teil eines gesellschaftlichen Generalumbaus. Neue Sozialversicherungssysteme wurden eingeführt, es gab eine Landreform, soziale Unterschiede wurden eingeebnet. Daher ist der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg dort geringer als bei uns, allerdings auch deshalb, weil es in Finnland kaum Zuwanderung gibt. Hinzu kommen die klaren Lernziele im Anfangsunterricht der Grundschulen. Wenn ein Kind nach drei Monaten nicht lesen und schreiben kann, gibt es in Finnland eine Klassenkonferenz, zum Teil mit Psychologen und Sozialarbeitern. In Deutschland haben wir gesagt, Kinder sind unterschiedlich, die Alphabetisierung kann bis zu drei Jahren dauern. Das ist dann leider für manche Lehrer die Rechtfertigung dafür, dass drei Jahre lang nichts geschieht.
Brügelmann: Wenn es so läuft, ist das natürlich falsch – aber eben eines der Missverständnisse, die man mit etwas offeneren Ansätzen im Unterricht riskiert. Nur: Zu sagen, jedes Kind muss in einem bestimmten Zeitraum dies und jenes erreichen, ist eine pädagogische Omnipotenzfantasie. Jedes Kind sollte seinen eigenen Weg gehen können – es darf dabei nur nicht allein gelassen werden. Wenn sich aber alle Anstrengungen nur auf den Übergang nach Klasse 4 richten, geraten viele pädagogische Anstrengungen leicht unter die Räder.
Lehmann: Ich bezweifle, dass eine längere gemeinsame Grundschulzeit gerechter oder leistungsförderlicher wäre. In Bayern etwa bestimmt die soziale Herkunft zwar stärker als anderswo, auf welche Schule ein Kind geht, nicht aber, wie viel es tatsächlich lernt. Das heißt, Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern lernen in Bayern mehr als in vielen anderen Bundesländern, ob nun auf dem Gymnasium, der Real- oder Hauptschule. Und letztlich kommt es doch stärker auf die Kompetenzen an als auf Zertifikate.
GEO WISSEN: Was käme heraus, würde man die Qualität eines Abiturs von heute mit der von früher vergleichen?
Brügelmann: Dass es letztlich nicht vergleichbar ist. In Frankreich hat man einmal in einem Bezirk Schulleistungen aus den 1920er Jahren mit denen von heute verglichen. Die heutigen Schüler waren in einigen Bereichen schlechter, in einigen gleich, in einigen besser – aber viele Inhalte gab es damals noch gar nicht. Die Rechtschreibung beherrschten die Schüler damals zweifellos besser, dafür wurde aber auch viel Unterrichtszeit benötigt.
GEO WISSEN: Ob nun vier oder sechs Jahre gemeinsamen Lernens – irgendwann steht dann doch der Übergang an. In der Hälfte der Bundesländer entscheiden vor allem die Lehrer, in den anderen die Eltern. Was ist gerechter, wer kann besser prognostizieren, wie sich ein Kind entwickeln wird?
Brügelmann: In beiden Fällen lässt sich kaum vorhersagen, welchen Weg ein Kind nimmt. Es gibt Bildungsforscher, die sind zufrieden damit, dass wir nach der vierjährigen Grundschule Fehlprognosen von „nur“ 30 bis 40 Prozent haben. Für mich ist es ein Armutszeugnis, dass so viele Kinder eine Klasse wiederholen oder die Schule wechseln. Daher ist es wichtig, viel Zeit zu haben, ehe man eine endgültige Entscheidung über die Schulform trifft.
Lehmann: Das Beispiel Berlin zeigt aber, dass die Prognosen nach der Klasse 6 nicht besser ausfallen. Meiner Ansicht nach sind die Bundesländer, die eine Orientierungsstufe oder Beobachtungsstufe haben, damit recht gut gefahren. Dort entscheiden am Ende die Lehrer, wo das Kind gut aufgehoben ist.
GEO WISSEN: Sehr objektiv ist auch das nicht, denn die weiterführenden Schulen haben oft ein starkes Eigeninteresse und lassen Schüler dann nur ungern an eine andere Schulform wechseln.
Lehmann: Zweifellos. Die Gymnasien geben bei Weitem nicht so viele Schüler ab, wie es dem Leistungsstand nach gerechtfertigt wäre, und die Realschulen halten natürlich an ihren Leistungsträgern fest. Auch an den sechsjährigen Berliner Grundschulen passieren mitunter ganz eigenartige Dinge: Da sinkt der Notenspiegel zu Beginn der 4. Klassen oft ganz plötzlich in den Keller, weil kurz darauf die Entscheidung ansteht: bleiben oder nach Klasse 4 ans Gymnasium wechseln. Das dürfen aber nur die leistungsstarken Kinder. Davon profitieren vor allem bildungsnahe Elternhäuser, die ihre Kinder zusätzlich fördern, um ihnen den schnellen Übergang ans Gymnasium zu ermöglichen. Damit hat man dann das Gegenteil dessen erreicht, was beabsichtigt war.
GEO WISSEN: Das klingt so, als sei es ziemlich gleichgültig, was man macht, am Ende kommt sowieso immer dasselbe heraus.
Brügelmann: Es gibt außerhalb des Vatikans kaum eine Institution, die sich so langsam wandelt wie Schule. Unsere Vorstellungen, was es bedeutet, soziale Systeme zu verändern, sind sehr naiv. Auch die so hoch gelobten skandinavischen Schulsysteme haben viele Jahrzehnte gebraucht, um sich zu dem zu entwickeln, was sie heute sind. Kaum ein Eingriff in ein Schulsystem ist an sich falsch oder richtig. Wir können nur sagen, er hat dieses Potenzial und jene Risiken. Aber mit einer solchen Offenheit lässt sich in Deutschland keine Politik machen. Da ist die vermeintlich schnelle Lösung gefragt. Daher bastelt man ständig an den Strukturen herum, statt mit langem Atem den Unterricht zu verbessern.