Entwicklung Neuronale Fehlbildungen: Wie Teenagergehirne unter Einsamkeit leiden

  • von Lena Frings
Jugendlicher lehnt in abgedunkelten Zimmer an der Wand und hält sich ein Hand vor sein Gesicht.
Krisenchat hilft jungen Menschen auch bei Einsamkeit. Eine Freundschaft oder eine Therapie kann das allerdings nicht ersetzen
© vitapix / Getty Images
Knapp die Hälfte der jungen Menschen in Deutschland fühlt sich einsam. Jetzt zeigt eine Studie: Das wirkt sich sogar auf das Gehirn aus 

"Hallo, ist da jemand?" – das ist der Anfang, meistens. Und am anderen Ende des Chats antwortet dann tatsächlich jemand. Freundlich und hilfsbereit stellt sich dieser jemand vor. "Bist du ein Bot?", das ist gelegentlich die zweite Frage, etwas misstrauisch, jedenfalls verunsichert. Aber es antwortet kein Bot, sondern ein Mann oder eine Frau von "Krisenchat". 1800 Menschen arbeiten, oft ehrenamtlich, für diese digitale Telefonseelsorge. Sie möchten jungen Menschen zur Seite stehen. Etwa bei Depressionen, Ängsten, selbstverletzendem Verhalten, Liebeskummer oder aber: Einsamkeit.   

Einsamkeit hat sich spätestens seit der Pandemie als gesellschaftliches Problem entpuppt. Doch die Entwicklung ebbt auch nach Quarantäne und Ausgangssperren nicht ab. Melanie Eckert, Mitbegründerin von Krisenchat, hat es immer öfter mit jungen Frauen und Männern zu tun, die bei ihr und ihrem Team Hilfe suchen, die aktuelle Bertelsmannstudie von 2024 spricht von 46 Prozent der Menschen zwischen 16 und 30 Jahren, die "sich einsam fühlen". Die Gründe liegen für Eckert auf der Hand: Immer zerklüfteter seien die sozialen Konstrukte, in denen wir leben. Kaum jemand wohne nahe der Familie, auch enge Bezugspersonen wechseln schneller als früher. Dabei entstehe echte Nähe nicht durch digitale Kontakte, sondern durch zwei oder drei gute Freundschaften. Und in einer Lebensphase, in der es eigentlich darum geht, Kontakte zu Gleichaltrigen aufzubauen und sich von den Eltern abzulösen, ist Einsamkeit fatal.  

Wie sehr sich Einsamkeit auf das Gehirn auswirkt, fanden Dr. Caterina Stamoulis und ihr Team am Boston Children's Hospital heraus. Laut ihrer Studie kann soziale Isolation während der Jugend – einer sensiblen Phase der Gehirnentwicklung – zu neuronalen Fehlverbindungen, einem erhöhten Risiko für kognitive Verzögerungen, sowie zu psychischen Problemen während des gesamten Lebens führen. Die Daten deuten auf eine beschleunigte neuronale Reifung hin. Diese könne das Risiko für Depression, Angst und soziale Funktionsstörungen erhöhen. 

Fünf bis 15 Prozent der Menschen geben in wissenschaftlichen Befragungen an, dass sie sich oft oder immer einsam fühlen. 

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Fünf bis 15 Prozent aller Deutschen geben bei Befragungen an, dass sie sich oft oder immer einsam fühlen. Die Folgen sind Krankheiten und eine sinkende Lebenserwartung. Die Psychologin Susanne Bücker plädiert dafür, Einsamkeit viel stärker als ein Risiko für die öffentliche Gesundheit wahrzunehmen

Um die Korrelation zwischen Isolation und Veränderungen im Gehirn herauszuarbeiten, analysierten Dr. Caterina Stamoulis und ihr Team Daten von knapp 3000 Jugendlichen. Die jungen Menschen zwischen 10 und 13 Jahren waren Teil der größten Langzeitstudie zur Gehirnentwicklung und Gesundheit von Kindern in den USA. Daten aus MRT- und funktionaler Magnetresonanztomographie lagen also bereits vor. Zusätzlich wurden nun Daten erhoben, die das Verhalten der Jugendlichen abfragten. Dafür mussten Eltern Einschätzungen über ihre Kinder abgeben, etwa: "zurückgezogen, geht keine Beziehungen zu anderen ein" oder "ist lieber allein als mit anderen zusammen". 

Es zeigten sich strukturelle Veränderungen im Gehirn bei den jungen Menschen, die einsam waren oder sich sozial zurückzogen. Soziale Zurückgezogenheit ging mit einer geringeren Dicke der Insula einher, einem Teil der Großhirnrinde. Auch das Volumen des Cuneus, ein Teil des Occipitallappens, war geringer. Diese Hirnregionen sind wichtig für soziale Wahrnehmung, emotionale Verarbeitung, Entscheidungsfindung und Sprachverarbeitung. Veränderungen dort sind mit kognitiven Defiziten, Depression und Angststörungen assoziiert.  

Ein größeres Volumen hingegen wies die Amygdala auf. Auch eine vergrößerte Amygdala ist häufig mit Angst und Depressionen verbunden, auch mit chronischem Stress. Ist man einmal in diesen Kreisläufen aus Furcht und Traurigkeit geraten, kommt man schwer wieder heraus. Auch Melanie Eckart beschreibt: Sei man ohnehin einsam, ziehe man sich noch weiter zurück, für Betroffene werde es werde immer schwieriger, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.   

Es wirkt zunächst absurd, fehlende Nähe in einem anonymen Chat anzubieten. Aber dieses Vorgehen hat pragmatische Gründe: "Junge Menschen telefonieren einfach nicht mehr", sagt Eckert. Im Krisenchat werden sie dort abgeholt, wo sie sich ohnehin aufhalten: im digitalen Raum. Dort fühlen sich junge Menschen sicherer, außerhalb sei oft die Hürde zu hoch, auf andere – Freunde, Lehrerinnen, Sozialarbeiter – mit Problemen zuzugehen. Da tippen sich sechzehn Buchstaben leichter: "Hallo, ist da jemand?".  

Wendet sich ein junger Mensch erneut an Krisenchat, dann antwortet nie die gleiche Person. Eckert erklärt, dass man das bewusst so entschieden habe: Es soll keine große Nähe zwischen Ehrenamtlichen und einzelnen jungen Menschen entstehen. Denn Zuneigung, Wärme und echte Freundschaft, die müsse man letztlich selbst finden, außerhalb des digitalen Raums.  

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