Juli 2006. Ich schicke die erste offizielle Anfrage an den zuständigen Repräsentanten des Dalai Lama für Deutschland. Doch die Gesandten des Dalai Lama haben immer viel zu tun. Obwohl ich sie von früheren Interviews gut kenne, ist es nicht leicht, einen Termin zu erhalten. Eine Kopie des Briefes gelangt auf die Schreibtische der Privatsekretäre des Dalai Lama in dessen Exilwohnort Dharamsala. Aber man lässt sich Zeit – zumal es immer weitaus mehr Anfragen für Interviews gibt, als zugesagt werden können. Denn Tenzing Gyatso, so der eigentliche Name des Dalai Lama, wird häufig eingeladen, ist oft auf Reisen – Washington, Brüssel, Japan. Und immer wieder Zürich, wo Tausende Tibeter im Exil leben.
Mehrmals frage ich nach, per Mail und telefonisch. Schließlich erreiche ich den Repräsentanten des Dalai Lama per Mobiltelefon in Brüssel – er muss mich nochmals vertrösten: Momentan sei es schwierig, der Dalai Lama sei häufig außerhalb Indiens. Im Winter sehe es aber besser aus, verspricht er. Und bittet um Geduld.
Erst nach sechs Monaten kommt dann kurzfristig die Zusage: „Glückwunsch, die Audienz für GEOEPOCHE ist bestätigt. Nächste Woche in Indien, da hat der Dalai Lama Zeit.“ Und dann noch eine Empfehlung: „Bitte nicht zu viele Fragen, denn der Dalai Lama antwortet gern sehr lang und ausführlich.“
Eine Woche später treffe ich in Indiens Hauptstadt Delhi ein. Die Weiterreise zum Dalai Lama würde per Zug und Auto ein bis zwei Tage dauern. Aber seit kurzem bietet eine private Fluglinie Verbindungen in die Berge an. Zwei Stunden dauert der etwas umständliche Flug in der winzigen Propellermaschine über andere Bergdörfer bis nach Kangra, einer Provinzstadt am Fuße des Himalaya. Dann geht es noch eine Stunde mit dem Jeep weiter bis nach Dharamsala. Ein buntes, aus provisorischen Häusern zusammengewürfeltes Dorf, das auf 1500 Meter Höhe liegt. Nicht weit entfernt verläuft die Grenze nach Tibet, der Heimat des Dalai Lama, aus der er 1959 fliehen musste. Ich beziehe mein Hotel oberhalb der Stadt. Es ist nebelig und kalt. Tags darauf soll das Gespräch stattfinden.
Sonne dann am nächsten Morgen. Eine lange Serpentine führt etwa 500 Meter hinauf zu jenem Ortsteil, in dem der Dalai Lama lebt – umgeben von Tausenden tibetischen Flüchtlingen, die in der Fremde Klöster und Schulen wieder aufbauen. Ich treffe auf viele Rucksackreisende. Dharamsala lebt vor allem vom Tourismus – und vom Dalai Lama, auch wenn der oft gar nicht da ist. Die Fremden aus Europa besuchen das Tibet-Museum, wo die Geschichte der Flüchtlinge dargestellt wird, oder sitzen in einem der Tempel, atmen Weihrauch und meditieren – häufig aufrechter und angestrengter als die Tibeter. Seine Heiligkeit – so die offizielle Anrede des Dalai Lama – ist im Ort auf Hunderten von Fotos und Aufklebern präsent. Und doch hofft jeder Besucher, das tibetische Oberhaupt einmal leibhaftig zu sehen.
Am Tor zur Residenz des Dalai Lama warten viele. Touristen, Einheimische. Auch ohne Termin trifft man sich hier wie an einem Wallfahrtsort, redet und harrt aus. Das Anwesen, ein Bungalowkomplex, verbirgt sich hinter Mauern und Zäunen. Am Tor erwartet mich eine Gruppe Tibeter in Winterjacken: die Wächter. Kurz darauf kommt der Privatsekretär in einem tibetischen Seidengewand mit den typischen, überlangen Ärmeln auf mich zu. Ich zeige meinen Pass vor, den Rucksack mit den Aufnahmegeräten und die Jacke. Alles wird mit modernsten Geräten durchleuchtet. Und dann reise ich ein: nach Klein Tibet, Ortsteil Dalai Lama.
In einem der flachen Häuser leben die Leibwächter, in einem anderen haben die Privatsekretäre ihre Büros. Weitere Bungalows dienen als Küche und als Besucherraum. Ganz am Ende des Komplexes, in einem zweigeschossigen Gebäude, wohnt der Dalai Lama selbst. Die Räume Seiner Heiligkeit sind einfach eingerichtet, mit Büroecke, Fernseher, Schlaftrakt. Statt Luxus gibt es hier einen herrlichen Blick in die Weite der Berge, in Richtung Tibet. Richtung Heimat.
Besucher werden meist ins „Interviewzimmer“ geführt, das mit kostbaren Malereien und einem Altar ausgestattet ist. Es gibt erst einmal Tee. An der Wand hängt eine alte Landkarte mit den Provinzen Tibets. Sie zeigt die Grenzen zu der Zeit vor dem Einmarsch der Chinesen und dient dem Herrscher im Exil als Mahnung und Verheißung in schwierigen Zeiten. Ich baue meine Mikrofone auf. Dann öffnet sich die Tür, ein langes Lachen ist zu hören, und der Dalai Lama – wie immer ein paar Minuten vor der Zeit – begrüßt mich freundlich. Er bittet, auf den großen Polstersesseln Platz zu nehmen, zieht seine Mönchsrobe zurecht. Sekretäre und Übersetzer nehmen Platz – es beginnt. Sechzig Minuten Audienz beim „Ozean der Weisheit“.