Geo.de: Warum ist Müßiggang so kompliziert?
Sophie Warning: Arbeit gilt in unserer Kultur immer noch als maßgeblich, alles wird darüber definiert. Zu viel Zeit? Dann wird sie totgeschlagen. Wenn jemand nichts tut, gilt er als unnütz. Viele sind aber total gestresst von der Arbeit und wollen sich im Urlaub nur davon erholen. Vielleicht auch ein Grund, warum so viele Menschen Pauschalurlaub an irgendeinem Strand machen und eigentlich gar nicht wissen, wo sie sind.
Was bedeutet denn Müßiggang für Sie?
Auf jeden Fall nicht nur faulenzen. Man kann auch müßig erwerbstätig sein oder müßig Sport machen. Wenn ich müßig bin, nehme ich mir die Zeit, die Umgebung auf mich wirken zu lassen, ich hänge meinen Gedanken nach, genieße. Ich nehme Teil am Glanz des Lebens. Man schaut, was kommt, und lässt es auch wieder, wenn es einem zu viel wird oder nicht gefällt. Vielleicht steht man morgens etwas früher auf, trinkt in Ruhe einen Kaffee, wartet erst mal ab, was der Tag so mit sich bringt – und rast nicht einfach los.
Geht das im Urlaub besser?
Klar, viele Menschen haben im Urlaub mehr Zeit und sind allein schon deshalb besser im Kontakt mit sich.
Das kann auch anstrengend sein.
Stimmt. Manche Menschen haben Angst vor Langeweile. Sie halten es nicht aus, wenn um sie herum nichts passiert. Und wenn ich im Alltag keinen Müßiggang spüre, ist es auch in den Ferien schwierig, ihn zu finden. Müßiggang ist immer wieder eine bewusste Entscheidung, ein Ideal, das man am Tag vielleicht auch nur für ein paar Momente erreicht.
Wie reisen Sie?
Ich habe nicht so viel Geld, weil ich nicht so viel arbeite, aber wenn, versuche ich, länger unterwegs zu sein und möglichst wenig vorauszuplanen. Ich hüte gern Häuser und verbringe da ein paar Wochen, ich bin einfach da. Ich habe keine Eile. Wenn ich unterwegs bin, lasse mich treiben und rede viel mit den Einheimischen. So richtig Urlaub habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Den brauche ich gar nicht.
Was spricht gegen Urlaub?
Wir arbeiten wie die Verrückten und brauchen dann Urlaub, den wir irgendwo verbringen, wo wir uns vielleicht gar nicht wohlfühlen, weil es doch nicht so ist, wie wir es uns erträumt haben.
Was arbeiten Sie eigentlich?
Ich bin Autorin, Sterbe- und Trauerbegleiterin. Außerdem gebe ich Kurse rund um die Hospiz-Thematik. Die Beschäftigung mit Sterblichkeit führt für mich direkt ins Leben. Ich nehme mir Zeit, höre zu, werte nicht. Wenn ich Sterbende begleite, vergesse ich die Zeit. Das klingt absurd, ich weiß, aber auch das ist Müßiggang.
Warum haben Sie diesen Verein Otium gegründet?
Im Bremen der 1990er-Jahre haben Felix Quadflieg und ich uns mit dem Sinn von Erwerbstätigkeit beschäftigt. Dort gab es viele Arbeitslose, sie fühlten sich ausgegrenzt, schämten sich. In Frankreich traten Arbeitslose hingegen viel selbstbewusster auf. Sie gingen auf die Straße, forderten Teilhabe an der Gesellschaft. Das hat uns imponiert. Wir haben Happenings vor den Arbeitsämtern veranstaltet, Sozialhilfe-Fragebögen mit verstellten Stimmen als Improtheater auf der Straße inszeniert, Gedichte öffentlich vorgelesen ...
Was haben denn Gedichte mit Müßiggang zu tun?
Poesie an sich ist müßig. Sie braucht Zeit, man denkt über sie nach. Mit wenigen Worten eröffnen Gedichte ganze Welten. Zum Beispiel Erich Kästner: "Arbeit lässt sich schlecht vermeiden, doch wer schuftet, ist ein Schuft", sind so tiefgründig und wunderbar. Oder Ernst Jandl, den ich sehr verehre: "Mir schwebt nichts vor. Doch ist um mich ein Flattern."
Und Gerhard Polt, der am Schliersee vor sich hin "schildkrötelt"…
Oh, ich liebe Polt. Der hat auf der Bühne und in seinen Interviews so tolle Sachen gesagt: "Ich sinnlose vor mich hin und das mit Begeisterung." Oder: "Wenn nichts passiert, passiert ja nur scheinbar nichts, weil irgendwas passiert ja immer." Wunderbar nicht?
Polt reist nicht gern. Ist das die Konsequenz von Müßiggang?
Vielleicht für ihn. Aber Reisen und Müßiggang passen gut zusammen. Ich verstehe nur nicht, wenn Leute im Urlaub von einer Attraktion zur nächsten hetzen, alles schon geplant haben, sich vom Handy navigieren lassen, immer fotografieren und erst auf den Fotos zu Hause sehen, wo sie überall waren. Sie laufen an so vielen schönen Dingen vorbei. Ich habe schon so viel Lustiges erlebt und Bekanntschaften gemacht, weil ich einfach nur auf einer Bank oder im Café saß oder irgendwo warten musste. Es gibt so viel zu sehen. Und wer zur Ruhe findet, kommt auch ins Nachdenken, wird mitfühlender und überlegt vielleicht, was er sonst noch machen will mit seinem Leben. Darin steckt viel Potenzial für Gutes.
Wie wird man eigentlich Mitglied in Ihrem Verein?
Ach, wissen Sie, wir führen gar keine Mitgliederlisten. Das ist zu viel Arbeit. Alle, die dem Müßiggang frönen, können sich gern Otium-Aktivisten nennen.