GEO: Frau Simon, Sie sagen: Fremdgehen gehört zur Monogamie dazu. Kann der Mensch nicht treu sein?
Aino Simon: Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Sie sind der Grund, warum du lebst, aufstehst, handelst. In der Monogamie kannst du nur bestimmte Anteile von dir zeigen. Nämlich solche, die mit der anderen Person übereinstimmen. Alles andere wird verdrängt. Genau das kann Menschen unzufrieden machen.
Und dann will man seine Bedürfnisse irgendwann doch befriedigen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ja. Als Partner ist man dann in einem Dilemma. Denn man hat dem anderen Menschen ja etwas versprochen. Es kommt zu einem inneren Konflikt. Indem ich versuche, meinem Partner treu zu sein, kann es passieren, dass ich mir selbst untreu werde.
Inwiefern?
Weil ich mir nicht ermögliche oder zugestehe, dass mein Körper oder meine Seele nach neuen Impulsen sucht. Stattdessen unterwerfe ich mich einer Regel und verrate mich womöglich selbst. Die Ironie: Genau dann ist die Beziehung bedroht. Weil eine Beziehung nur gut sein kann, wenn beide Menschen sich selbst treu sind.
Sie halten also nichts von Monogamie?
Ich sage nicht, dass Monogamie schlecht ist. Für viele Menschen funktioniert sie für eine Weile sehr gut. Ich empfehle nur jedem: Überprüfe, was dein Liebesmodell mit dir macht. Und ob es für dich in deiner Lebensphase tatsächlich das richtige ist.
Beziehung: "Beim Fremdgehen werden Bedürfnisse nach Intensität und Lebendigkeit gestillt"
Jede zweite Ehe wird wegen Untreue geschieden. Doch eine monogame Beziehung gilt nach wie vor als Ideal. Wonach sehnen wir uns in der Monogamie?
Nach Sicherheit. Und das finde ich menschlich zutiefst nachvollziehbar. Das Leben ist durch die Digitalisierung sehr schnellebig geworden. Und in unserer Umgebung geschehen gefährliche Dinge.
Tatsächlich bleiben Menschen in unsicheren Zeiten offenbar eher zusammen. Die Scheidungsraten sind in den letzten Jahren zurückgegangen. Und die waren geprägt von Klimaerwärmung, Corona, Krieg und Inflation.
Genau. Um das auszuhalten, sehnen wir uns nach einem sicheren Hafen. Wo wir gemocht werden und willkommen sind. Viele Menschen verbinden das mit der Monogamie. Sie denken: Wenn mein Partner seine Sexualität nur mit mir teilt, wird er bei mir bleiben, weil er nicht in Versuchung gerät. Ich kann diese Sehnsucht nach Sicherheit total verstehen, der Gedanke hat etwas Beruhigendes. Doch es ist eine Scheinsicherheit.
Es gehen auch viele Menschen fremd, die glücklich in ihrer Beziehung sind. Was gibt uns das Fremdgehen?
Damit werden Bedürfnisse nach Intensität und Lebendigkeit gestillt. Dass das für uns so reizvoll ist, liegt daran, wie unser Gehirn funktioniert. Das Gehirn ist einerseits konservativ und greift auf Erlerntes und Gewohntes zurück, um im Alltag schneller zu funktionieren. Andererseits ist es offen für Neues, denn nur durch neue Erfahrungen entwickelt sich das Gehirn weiter. Also haben wir einerseits die Sehnsucht nach Sicherheit, und auf der anderen Seite das Bedürfnis, etwas Unbekanntes erleben zu wollen. Dass wir zwei so widersprüchliche Sehnsüchte in uns tragen, ist ein Dilemma, das Dilemma der Monogamie. Das erklärt aber, warum sich so viele Menschen gerade für alternative Beziehungskonzepte interessieren.
Reiz am Fremdgehen: "Den Rausch der Fremdheit gibt es nur am Anfang einer Beziehung"
Kann man nicht auch in seiner Beziehung etwas Neues erleben und nach Jahren noch aufregenden Sex haben?
Doch das kann man, wenn man sich darum bemüht. Doch den Rausch der Fremdheit gibt es nur am Anfang einer Beziehung. Wenn Sie ein Mensch sind, der stark auf das Fremde ausgerichtet ist – und das sind viele Menschen – dann werden Sie das bei Ihrem Partner irgendwann nicht mehr bekommen. Und wenn das Gehirn eines Menschen, der oft Neues braucht, über lange Zeit zu wenig Impulse hat, dann langweilt es sich. Der Mensch büßt seine Vielfalt und seine Lebendigkeit ein.
Woher weiß man, ob man eher Sicherheit braucht – oder etwas Neues?
Es gibt Menschen, die das Monogame wirklich brauchen, die das Fremde eher abturnt. Und andersrum. Dafür gibt es bestimmte Indikatoren, die sich sogar messen lassen. Wie wir gepolt sind, liegt an Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln, aber auch an unserer Genetik. Welcher Typ man ist, kann man selbst herausfinden, indem man sich ehrlich mit seiner eigenen Sexualität beschäftigt.
Was halten Sie persönlich von Untreue?
Was ist denn Treue? Ich habe mehrere unterschiedliche Sexualpartner und bin meinem Mann trotzdem treu. Und er mir. Weil wir das, was wir einander versprechen, einhalten. Nur haben wir uns nicht die sexuelle Exklusivität versprochen. Und es funktioniert, wir leben seit 20 Jahren in einer offenen Beziehung – was uns natürlich auch nicht vor den normalen Beziehungs-Konflikten bewahrt, die jedes Paar hat. Treue ist grundsätzlich wichtig. Aber Treue ist in einer Beziehung das, was beide Partner miteinander definieren.
Ich frage mich: Was hat es mit Liebe zu tun, wenn ich meinem Partner oder meiner Partnerin verbiete, sich selbst ganz zu spüren? Wo ist denn da die Liebe? Das leuchtet mir nicht ganz ein.
Dem anderen Seitensprünge zu erlauben, dürfte für viele Menschen schwierig sein. Manche sind schon eifersüchtig, wenn geflirtet wird. Sie haben Angst, den Menschen zu verlieren, den sie lieben.
Ja. Aber den Menschen an deiner Seite wirst du eher verlieren, wenn du ihn zwingst, sich einzuengen und nicht mehr lebendig zu sein. Dann ist die Gefahr größer, dass er sich entfernt. Du kannst einen Menschen nicht verändern, indem du ihn bestrafst. Aber ja, die Angst, verlassen zu werden, teilen wir alle. Umso wichtiger ist es, sich selbst und sein Leben zu lieben. Und sich nicht auf einen Menschen zu fixieren.
Monogamie: "Die Sehnsucht nach der fremden Haut ist eine Sehnsucht nach dir selbst"
Geht es, wenn wir uns neu verlieben oder fremdgehen, vor allem um Sex? Oder auch um etwas anderes?
Eigentlich ist diese Sehnsucht nach dem Fremden, nach der fremden Haut, in den allermeisten Fällen eine Sehnsucht nach dir selbst, nach der Person, die du auch sein könntest. Denn in einem neuen Kontakt erlebst du dich neu. Du bist anders.
Ich suche also nach einer Version oder einem Teil von mir, die im Alltag zu kurz kommt?
Genau. Der Wunsch beim Fremdgehen ist auch, sich selbst wieder neu zu erleben. Sich im Lichte eines anderen Blickes zu sehen. In diesem Moment kann ich wieder andere Seiten in mir spüren. Es ist also eine Sehnsucht nach dir selber. Und es ist wichtig, das zu verstehen. Denn wenn Partner das verstehen, können sie die Wünsche des anderen vielleicht besser tolerieren, ohne zu eifersüchtig zu sein.
Trotzdem: Können wir uns dieses Aufregende nicht irgendwie anders holen, als beim Fremdgehen mit einem anderen Menschen? Sagen wir mal, mit Bungeesprüngen – oder bei Abenteuern auf Reisen?
Ich würde auf einer aufregende Reise wahrscheinlich immer irgendjemanden finden, den ich lecker finde. Das ist eine Typ-Frage. Für manche Menschen hat Sexualität einfach eine höhere Bedeutung als für andere. Es gibt keine pauschale Antwort darauf, wann dein Bedürfnis gestillt ist. Natürlich kannst du eine Menge tun, um dein Leben zu inspirieren. Aber wenn es deine Sehnsucht ist, dich mit anderen fremden Körpern zu verschmelzen, dann wird auch die Reise nichts dran ändern.
Was ist Ihre Nachricht an alle, die sexuelle Bedürfnisse außerhalb der Beziehung haben, und diese ständig zu unterdrücken versuchen?
Steh zu dir. Kämpfe nicht gegen dich an. Versuche nicht, zu sein, wie dein Partner oder die Gesellschaft dich haben will. Sondern zeig dich, wie du bist. Und sag, was du brauchst. Ob du Lust auf fremde Haut hast – oder eben nicht.
Das klingt wie ein Freifahrtschein. Viele Menschen gehen ohnehin schon heimlich fremd, obwohl sie ihren Partner lieben – auf Geschäftsreisen, im Büro oder bei einem Trip mit Freunden.
Wenn man diese Bedürfnisse hat, ist es wichtig, nicht einfach zu handeln und zu betrügen. Oder zu sagen, wir öffnen jetzt die Beziehung, ob du willst oder nicht. Das führt in der Regel zu mächtigen Katastrophen. Wenn du feststellst, du hast Sehnsüchte und Gelüste, die du in deiner funktionierenden Beziehung nicht stillen kannst, dann kannst du dagegen ankämpfen, meist vergeblich. Oder du findest Wege, ehrlich über diese sensiblen Themen mit dem Partner oder der Partnerin zu sprechen. Und Vereinbarungen zu finden, wie es einvernehmlich möglich wird, mehr zu erleben, als bisher vorstellbar war.
Demnächst werden wir mit Aino Simon darüber sprechen, welche Beziehungsmodelle abseits der Monogamie funktionieren können. Wie bespricht man solche Wünsche mit dem Partner, ohne die Beziehung zu gefährden? Kann man mehrere Menschen gleichzeitig lieben? Wie werden wir in Zukunft lieben, wenn momentan so viele Menschen fremdgehen? Und wie funktioniert eine glückliche Beziehung über Jahre? Antworten auf alle diese Fragen gibt Aino Simon demnächst auf GEO.de.
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