
Durch die Westfront: die Brieftaube Cher Ami
Die Lage schien aussichtslos. Am 4. Oktober 1918 fand sich ein Bataillon der 77. US-Infanteriedivision an der Westfront in Frankreich nahe Verdun eingeschlossen von deutschen Truppen. Die eigenen Kampfeinheiten waren nicht mehr zu erreichen, schlimmer noch: Das "Verlorene Bataillon" geriet versehentlich unter Beschuss der eigenen Artillerie. Hunderte Männer waren bereits gestorben. Major Charles Whittlesey hatte noch eine Hoffnung: Brieftauben sollten eine Nachricht zur Basis bringen. Zwei Vögel wurden sofort von den Deutschen abgeschossen. Dann kam "Cher Ami" an die Reihe. An ihrem rechten Bein wurde eine Kapsel befestigt, darin ein hauchdünnes Papier, auf dem die Position von Whittleseys Männern vermerkt war, verbunden mit der Aufforderung: "Unsere Artillerie richtet ihr Sperrfeuer direkt auf uns. Um Himmels willen, hört damit auf." Kaum war Cher Ami losgeflogen, so hieß es später, wurde auch sie getroffen. Ging zu Boden, flog erneut los, auf einem Auge blind, ein Fuß fast abgetrennt, mit einem Brustschuss. Angeblich legte der Vogel dennoch in einer halben Stunde 40 Kilometer zurück und landete in einem mobilen Taubenschlag. Die Amerikaner richteten ihren Beschuss neu aus, und 194 Männer des "Verlorenen Bataillons" konnten sich hinter die eigenen Linien retten. Auch wenn sich nicht mehr klären lässt, wie viel Heldenverklärung hinter der Erzählung steckt: Cher Ami wurde mit dem französischen "Croix du guerre" (einem Kriegsorden) ausgezeichnet. Einige Monate später starb sie an ihren Verletzungen. Heute steht die Taube ausgestopft, auf einem Bein, im National Museum of American History in Washington, D.C. Und noch 2021 beschäftigte Cher Ami die Experten: Bis dahin war nämlich unklar, ob der Vogel weiblich oder männlich war. Ein DNA-Test brachte Klärung. Cher Ami war ein Er.
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