GEO.de: Herr Käsbohrer, wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrem Buch?
Thomas Käsbohrer: Ich habe die Pandemie mit meinem Boot in Irland verbracht und bin im Sommer 2022 auf dem Weg ins Mittelmeer vor Gibraltar selbst einem Orca begegnet. Er näherte sich bis auf etwa 100 Meter, und ich war einfach fasziniert, wie der durch die Wellen pflügte, mit wie viel Power und Testosteron der unterwegs war. In der Nähe trainierte allerdings gerade die spanische Marine, und der Schwertwal drehte ab in Richtung einer Fregatte. Vielleicht hat die spanische Navy mich gerettet (lacht).
Es gab vor zweieinhalb Jahren nur vereinzelte Berichte über "Attacken" von Orcas auf Sportboote. Wie ist heute die Lage?
Auf der Route Brest - Gibraltar sind nach meinen Umfragen jedes Jahr ungefähr 7000 Boote unterwegs. In 90 Prozent aller Fälle bekommen die Besatzungen keinen Orca zu Gesicht. Aber schätzungsweise drei bis fünf Prozent aller Boote werden leicht bis schwer beschädigt. Zwei Boote sind mittlerweile nach Orca-Attacken gesunken, und es gibt möglicherweise eine hohe Dunkelziffer.

Ein Yachtgutachter, mit dem ich gesprochen habe, hat allein zwischen Juli und August 2021 sieben Yachten im Internet ermittelt, die wegen eines ungeklärten Wassereinbruchs in der Straße von Gibraltar gesunken waren. Nach seiner Einschätzung könnte die Zahl sogar noch deutlich höher liegen. Es wird nur nicht an die große Glocke gehängt.
Werden die Angriffe heftiger und gefährlicher?
Beides. Die Angriffe haben letztes Jahr noch einmal zugenommen. Und es sind mehr Tiere beteiligt. Am Anfang, 2020, waren es ja nur drei Tiere aus der Gruppe der Orca Iberica, das sind etwa 50 Tiere, die sich überwiegend vor der Straße von Gibraltar aufhalten. Jetzt sind es schon mindestens 16 auffällige Tiere, und statt einem oder zwei Hotspots haben wir jetzt fünf – und einen, von dem man kaum etwas weiß, nämlich vor der Atlantikküste vor Marokko. Ich gehe davon aus, dass die Attacken noch zunehmen und noch einige Jahre andauern werden.

Aber es ging und geht den Orcas offenbar nie darum, Menschen zu verletzen oder gar zu töten?
Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, dass Orcas in freier Wildbahn Menschen angegriffen hätten – bis jetzt. Vor der Küste Norwegens kann man sogar "Schwimmen mit Orcas" buchen. Der Grund ist: Der Mensch passt einfach nicht in ihr erlerntes Beuteschema. Und jede Population ist auf eine bestimmte Beute spezialisiert: die Orca Iberica ausschließlich auf Thunfisch vor der Straße von Gibraltar, Populationen vor British Columbia auf Königslachs. die vor Südafrika machen Jagd auf weiße Haie und beißen nur deren Leber heraus. Andere, vor Australien, sind auf Buckelwale spezialisiert – und gehen dabei in Teams unglaublich geschickt vor.

Es kursieren verschiedene Theorien, warum die Orcas Sportboote beschädigen. Welche ist heute die plausibelste?
Wenn es eine einfache Antwort gäbe, könnte man sie googeln. Eine der ersten Theorien war, dass die Zunahme der menschlichen Aktivitäten im Meer zu einer Art Gegenwehr bei den Tieren führt. Dieses Narrativ hält sich bis heute. Aber wenn man sich das verfügbare Videomaterial ansieht, deutet wenig auf ein aggressives Verhalten hin. Die Tiere sind zwar ausgesprochen fokussiert auf das Ruder, aber sie gehen langsam vor. Es gibt auch die Theorie, nach der die Tiere unter einer Art Toxoplasmose leiden, einem Parasiten, der seinen Wirt besonders risikobereit macht. Es ist ja schon auffällig, dass Orcas bis vor etwa zehn Jahren Boote gemieden haben ...
Es war auch früh von Nahrungskonkurrenz die Rede ...
Es gibt zumindest in der Straße von Gibraltar eine wichtige Konfliktzone zwischen Orcas und Menschen. Da fischen die Spanier mit langen Leinen Thunfisch, für den in Japan bis zu 10.000 Euro pro Kilo gezahlt werden. Da geht es also um viel Geld. Für die Orcas ist das Geräusch der Winschen, mit denen die Leinen aus 200 Meter Tiefe eingeholt werden, das Signal: "Time for dinner". Die pflücken sich die gefangenen Thunfische einfach von der Leine. Und die Fischer versuchen ihrerseits, die Tiere zu vertreiben – auch mit illegalen Methoden. An der Küste wurde schon ein Tier mit einer Kugel im Kopf angespült.
Und den Frust der Wale müssen jetzt die Sportboot-Fahrer ausbaden?
Wir wissen es nicht. Ein Meeresbiologe sagte mir: "Vielleicht bezahlt ihr für etwas, was andere ihnen angetan haben."
Was ist Ihr persönliches Fazit?
Wenn man mal die Walschutz- und "Free Willy"-Brille absetzt, zeigen sich Orcas als bedrohte Wildtiere wie Wölfe oder Bären. Als Raubtiere, mit denen es Konflikte geben kann. Interessanterweise entwickelt sich die öffentliche Diskussion in eine ähnliche Richtung wie die Debatte über "problematische" Wölfe oder Bären. Ich habe auch mit Wolfsforschern gesprochen, und die sagten mir: Zeigt ein Tier ein anormales, für Menschen potenziell gefährliches Verhalten, hat man wenig Chancen, es dem Tier abzutrainieren. Als letztes Mittel bleibt dann nur die "Entnahme", also die Tötung.
Halten Sie die behördlich angeordnete Tötung von Orcas für wahrscheinlich?
Nein. Wenn die Spanier im Naturschutz etwas beschlossen haben, ob das nun der Schutz von Seegras oder einer Orca-Population ist, dann ziehen die das durch. Die Behörden werden es nicht machen. Meine große Sorge ist, dass ähnlich wie bei Wölfen oder Bären besorgte oder überreagierende Besatzungen in die Illegalität abrutschen und Tiere erlegen oder schwer verletzen. Orcas agieren in hohem Maße sozial. Alles ist möglich. Wie bei uns könnten bedrohte Anwohner oder Fischer die Dinge selbst in die Hand nehmen.
... was die Wale möglicherweise aggressiver macht. Werden Sie in dem betroffenen Gebiet noch mal segeln?
In zwei Jahren. Dann will ich zurück nach Irland.
Hinweis: Dieses Interview haben wir bereits im Januar 2023 geführt.
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