Die Attacke dauert nur wenige Sekunden. Der Orca schießt vor und verbeißt sich in der Unterseite des weiß gepunkteten Walhais, der eben noch ruhig durch das Wasser glitt. Blut strömt aus der Wunde und zieht Schlieren im Wasser. Als das Maul des Orcas den Walhai freigibt, sinkt dieser wie ein Stein zu Boden. Mit bis zu 18 Metern Körperlänge ist er der Gigant unter den Haien und hat als ausgewachsenes Tier kaum natürlichen Feinde, nur verletzte Tiere und Kälber fallen zuweilen anderen Haien oder Orcas zum Opfer. Doch die Aufnahme eines Tauchers vor der Küste der mexikanischen Halbinsel Baja California stellt das nun infrage: Es ist das erste bekannte Video, das zeigt, wie ein Orca einen erwachsenen Walhai angreift.
"Es sieht so aus, als hätte der Orca die Leber des Walhais geschlürft", sagte James Moskito, der die Aufnahmen während eines Tauchgangs machte, der Website Livescience.com. "Dann fiel der Walhai einfach um und sank bewegungslos nach unten – ich nehme an, er war tot." Wenig später werden Moskito und seine Freunde erneut Zeugen eines tödlichen Angriffs. Sie beobachten, wie ein Walhai verzweifelt um sich schlägt, während sich ein Orca in seinem Körper verbeißt.
Eigentlich stehen kleinere Fische auf dem Speiseplan der Killerwale. Auch Robben, Seevögel oder Meeresschildkröten verschlingen Orcas mit Appetit. In Gruppen jagen sie koordiniert zusammen, um ihre Beute in die Enge zu treiben und einzukreisen. Warum aber jagen sie ausgewachsene Haie – und reißen ihnen gezielt die Leber heraus, ohne sich für den Rest des sterbenden Tieres zu interessieren? Und handelt es sich dabei um eine neu erlernte Verhaltensweise oder ein altes Phänomen?
Als Top-Prädatoren können sich Orcas auch Delikatessen gönnen
Sucht man nach einer Erklärung dafür, dass der Orca nur einen Happen aus dem Walhai beißt, stößt man schnell auf die robuste Haut von Haien. An ihr beißen sich die Orcas buchstäblich die Zähne aus: Forschende haben bei Orcas, die beim Fressen anderer, kleinerer Haiarten beobachtet worden waren, festgestellt, dass die Hautdentikel der Haie abrasiv wie Schmirgelpapier wirken. Sie schleifen die Zähne der Orcas ab, bis nur noch Stümpfe übrigbleiben. Statt einen ganzen Hai zu zerbeißen, scheint es zahnschonender zu sein, sein nahrhaftestes Organ mit wenigen Bissen zu erbeuten. "Die Haileber ist recht groß und sehr nährreich, voller Fette und Öle", sagt die Meeresbiologin Tamara Narganes Homfeldt von der Tierschutzorganisation Whale and Dolphin Conservation. "Manche Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass die Leber allein eine ganze Tagesmahlzeit für Orcas sein kann." Im Gegensatz zu anderen Organen sinkt sie nicht auf den Meeresgrund, wenn sie dem Raubfisch aus dem Körper gerissen wird, sondern treibt an die Wasseroberfläche, wo sie von den Orcas bequem verspeist werden kann.
Und es könnte noch einen anderen, ganz banalen Grund geben: Die Leber scheint den Orcas besonders gut zu schmecken. "Da Orcas in der Nahrungskette ganz oben stehen, können sie sich eine solche Delikatesse leisten", sagt Narganes Homfeldt. Während den mexikanischen Orcas die Leber des Walhais besonders gut zu schmecken scheint, vermutet man, dass westaustralische Orcas es besonders auf die Zunge des Blauwals abgesehen haben. "Wir Menschen machen das ja auch nicht anders", sagt die Meeresbiologin. "Wer Fleisch isst, isst meistens leider auch nicht das ganze Tier, sondern schmeißt Teile weg."
Mit welchem Mechanismus es dem Schwertwal gelingt, die Leber im massiven Körper des Walhais präzise zu orten und zu erbeuten, ist unklar. Narganes Homfeldt vermutet, dass er die Leberstruktur des Walhais mithilfe seiner Echolokation erkennen kann.
Möglich ist, dass Orcas so schon in der Vergangenheit Jagd auf Haileber machten, dieses Verhalten bislang aber kaum beobachtet wurde, sagt die Meeresbiologin. "Es könnte aber auch sein, dass die Orcas ihr Beuteschema erweitern, weil sie durch Überfischung und Klimawandel Beute verlieren und sie ihren Nahrungsplan umstellen und erweitern müssen."
Orcas können Verhaltensweisen an Artgenossen weitergeben – auch, wie man Haileber jagt
In Südafrika, knapp 15.000 Kilometer von Baja California entfernt, beobachten Forschende schon seit einigen Jahren Angriffe von Schwertwalen auf Haie. Im Küstengebiet von Gansbaai wunderten sie sich über die Kadaver Weißer Haie, die dort immer wieder an Land gespült wurden. Was fast allen gemeinsam war: ihnen fehlte die Leber. Einigen war auch das Herz aus dem Leib gerissen worden. Die Küste vor Gansbaai gehört eigentlich zum angestammten Lebensraum des Weißen Hais, hier ist er der gefährliche Top-Prädator. Die Gegend galt deshalb als der Ort für all jene, die in einem Käfig zu den gefährlichen Raubfischen hinabtauchen wollten. Doch nach den mysteriösen Todesfällen verschwanden die Weißen Haie aus Gansbaai.
In die Flucht geschlagen, fanden Forschende später heraus, hatte sie ein Orca-Pärchen: In einer im "African Journal of Marine Science" veröffentlichten Studie ordnen sie die Wunden an den Kadavern der angespülten Haie allesamt denselben Orcas zu: Port und Starboard, Backbord und Steuerbord, nennen sie die beiden miteinander verwandten Killerwale. Ihre Attacken, folgern die Forschenden, haben zu einer "schnellen und dauerhaften Massenvertreibung" des Weißen Hais in der Region geführt. Sichtungen von Weißen Haien seien in Gansbaai seit 2017 "dramatisch zurückgegangen" – obwohl die Tiere eigentlich ebenfalls ganz oben auf der Nahrungskette stehen. Doch während der Weiße Hai als Einzelgänger durch den Ozean streift, jagen Orcas in der Gruppe. "Killerwale sind hochintelligente und soziale Tiere. Ihre Gruppenjagdmethoden machen sie zu unglaublich effektiven Raubtieren", sagt der Meeressäugerspezialist und Mitautor der Studie, Simon Elwen von der Universität Stellenbosch. So effizient, dass ihnen offensichtlich nicht einmal der Weiße Hai entkommen kann.
Luftaufnahmen von einer Drohne und aus einem Hubschrauber bestätigten im vergangenen Jahr den Verdacht der Forschenden: Port und Starboard machen gemeinsam mit Artgenossen Jagd auf Haie. Dass Starboard einem Hai vor vier Artgenossen die Leber aus dem Leib reißt, lässt vermuten, dass er dieses Verhalten weitergibt. Frühere Studien haben bereits dokumentiert, dass Killerweile neue Verhaltensweisen im Laufe der Zeit durch kulturelles Lernen weitergeben. Dialekte und Jagdstrategien werden so weitergetragen – die Jagd auf Haileber könnte in den betroffenen Gebieten also zunehmen. Dass die Orcas in Mexiko mit jenen in Südafrika in Verbindung stehen, ist aufgrund der Entfernung aber unwahrscheinlich. "Die Jagd auf Haie wird sich in beiden Populationen wohl eher unabhängig voneinander entwickelt haben", sagt Narganes Homfeldt.
Wenn die Top-Prädatoren fliehen, gerät das Ökosystem ins Wanken
Wenn künftig mehr und mehr Killerwale Jagd auf Weiße Haie machen, wird das weitreichende Auswirkungen auf die Haipoulationen haben, befürchten die Forschenden aus Südafrika. Denn mit der Flucht des Top-Prädators verändert sich das ganze Ökosystem der Region. Ohne den Einfluss des Weißen Hais vermehrt sich beispielsweise die Kap-Pelzrobbe unkontrolliert – die wiederum den vom Aussterben bedrohten Afrikanischen Pinguin jagt.
Auch für die Walhaie in Mexiko hätte es Folgen, wenn sich die Jagd auf Haileber unter den Orcas etabliert. Die Haie schwimmen weite Strecken und vermehren sich nur langsam, sind durch Überfischung, Schiffsverkehr, die Verschmutzung der Meere und den Klimawandel ohnehin gefährdet. "Wenn sich dieses jetzt dokumentierte Verhalten ausbreitet, kann es noch mehr Druck auf die bereits gefährdete Art ausüben", sagt Narganes Homfeldt. "Der Mensch und die Folgen seines Verhaltens stellen allerdings die größere Gefahr dar."