Rempelnde Orcas 15-Meter-Yacht versenkt: Eine neue Eskalationsstufe der Orca-"Attacken"?

Orcas sind Top-Predatoren der Meere. Dennoch ist bislang kein Fall dokumentiert, bei dem ein Orca in freier Wildbahn einen Menschen angegriffen hätte
Orcas sind Top-Predatoren der Meere. Dennoch ist bislang kein Fall dokumentiert, bei dem ein Orca in freier Wildbahn einen Menschen angegriffen hätte
© CIRCE (Conservation, Information and Research on Cetacean)
Vor der marokkanischen Küste haben Orcas kürzlich eine große Segelyacht zum Sinken gebracht. Und schon seit Jahren werden auch vor der spanischen Atlantikküste Sportboote von Schwertwalen bedrängt, beschädigt und sogar versenkt. Wir sprachen mit dem Segler und Autor Thomas Käsbohrer, der das weltweit erste Buch über die rätselhaften Angriffe veröffentlichte

GEO: Herr Käsbohrer, ist die Versenkung einer 15-Meter-Yacht vor der Küste Marokkos eine neue Eskalationsstufe bei den "Angriffen" der Meeressäuger?

Thomas Käsbohrer: Was ich bisher über den Vorfall gelesen habe, war nicht ganz plausibel. Eine 15-Meter-Yacht ist ein Brocken. Der Rumpf ist so stabil gebaut, dass die normalen Rempler und Rumpler von Orcas ihm nicht viel anhaben können. Moderne Bootsrümpfe sind empfindlich für so genannte spitze Traumen, also punktuelle Druckeinwirkung. Aber stumpfe Gegenstände wie ein Wal-Schädel können kaum ein Loch in die Kunststoffhaut so großer Boote rammen. Was genau passiert ist, wird schwer zu rekonstruieren sein. Es wäre aber denkbar, dass die Tiere auch in diesem Fall beim Rempeln am Ruderblatt durch die Hebelwirkung die Führung des Ruderschafts in der Rumpfhaut beschädigt haben. Das könnte, wie in anderen Fällen auch, zu dem Leck geführt haben.

Glauben Sie, dass die Tiere die Versenkung beabsichtigen?

Nein. Die Tiere sind einfach neugierig, und sie wissen, dass sie mit ihren Aktionen eine Wirkung erzielen: Die Bootsbesatzungen ändern ihr Verhalten, sie stoppen, fangen an zu klopfen oder was auch immer. Die Orcas probieren einfach immer mal was Neues.

Es gab vor zweieinhalb Jahren nur vereinzelte Berichte über "Attacken" von Orcas auf Sportboote. Wie ist heute die Lage?

Auf der Route Brest-Gibraltar sind nach meinen Umfragen jedes Jahr ungefähr 7000 Boote unterwegs. In 90 Prozent aller Fälle bekommen die Besatzungen keinen Orca zu Gesicht. Aber schätzungsweise drei bis fünf Prozent aller Boote werden leicht bis schwer beschädigt. Fünf Boote sind mittlerweile nach Orca-Attacken gesunken, und es gibt möglicherweise eine hohe Dunkelziffer.

Thomas Käsbohrer war viele Jahre als Verleger tätig, bevor er sich ganz seiner Leidenschaft widmete: dem Segeln
Thomas Käsbohrer war viele Jahre als Verleger tätig, bevor er sich ganz seiner Leidenschaft widmete: dem Segeln
© Thomas Käsbohrer

Ein Yachtgutachter, mit dem ich gesprochen habe, hat allein zwischen Juli und August 2021 sieben Yachten im Internet ermittelt, die wegen eines ungeklärten Wassereinbruchs in der Straße von Gibraltar gesunken waren. Nach seiner Einschätzung könnte die Zahl sogar noch deutlich höher liegen. Es wird nur nicht an die große Glocke gehängt.

Werden die Angriffe heftiger und gefährlicher?

Beides. Die Angriffe haben letztes Jahr noch einmal zugenommen. Und es sind mehr Tiere beteiligt. Am Anfang, 2020, waren es ja nur drei Tiere aus der Gruppe der Orca Iberica, das sind etwa 50 Tiere, die sich überwiegend vor der Straße von Gibraltar aufhalten. Jetzt sind es schon mindestens 16 auffällige Tiere, und statt einem oder zwei Hotspots haben wir jetzt fünf – und einen, von dem man kaum etwas weiß, nämlich vor der Atlantikküste vor Marokko. Ich gehe davon aus, dass die Attacken noch zunehmen und noch einige Jahre andauern werden.

Thomas Käsbohrer: "Das Rätsel der Orcas. Wie Orcas sich das Meer zurückholen. Warum sie Boote angreifen", millemari Verlag 2023
Thomas Käsbohrer: "Das Rätsel der Orcas. Wie Orcas sich das Meer zurückholen. Warum sie Boote angreifen", millemari Verlag 2023

Aber es ging und geht den Orcas offenbar nie darum, Menschen zu verletzen oder gar zu töten?

Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, dass Orcas in freier Wildbahn Menschen angegriffen hätten – bis jetzt. Vor der Küste Norwegens kann man sogar "Schwimmen mit Orcas" buchen. Der Grund ist: Der Mensch passt einfach nicht in ihr erlerntes Beuteschema. Und jede Population ist auf eine bestimmte Beute spezialisiert: die Orca Iberica ausschließlich auf Thunfisch vor der Straße von Gibraltar, Populationen vor British Columbia auf Königslachs. die vor Südafrika machen Jagd auf weiße Haie und beißen nur deren Leber heraus. Andere, vor Australien, sind auf Buckelwale spezialisiert – und gehen dabei in Teams unglaublich geschickt vor.

Buckelwal wird von Schwertwalen attackiert
© Whale Watch Western Australia
Buckelwal wehrt sich vier Stunden lang gegen 15 Orcas – und überlebt

Es kursieren verschiedene Theorien, warum die Orcas Sportboote beschädigen. Welche ist heute die plausibelste?

Wenn es eine einfache Antwort gäbe, könnte man sie googeln. Eine der ersten Theorien war, dass die Zunahme der menschlichen Aktivitäten im Meer zu einer Art Gegenwehr bei den Tieren führt. Dieses Narrativ hält sich bis heute. Aber wenn man sich das verfügbare Videomaterial ansieht, deutet wenig auf ein aggressives Verhalten hin. Die Tiere sind zwar ausgesprochen fokussiert auf das Ruder, aber sie gehen langsam vor. Es gibt auch die Theorie, nach der die Tiere unter einer Art Toxoplasmose leiden, einem Parasiten, der seinen Wirt besonders risikobereit macht. Es ist ja schon auffällig, dass Orcas bis vor etwa zehn Jahren Boote gemieden haben ...

Es war auch früh von Nahrungskonkurrenz die Rede ...

Es gibt zumindest in der Straße von Gibraltar eine wichtige Konfliktzone zwischen Orcas und Menschen. Da fischen die Spanier mit langen Leinen Thunfisch, für den in Japan bis zu 10.000 Euro pro Kilo gezahlt werden. Da geht es also um viel Geld. Für die Orcas ist das Geräusch der Winschen, mit denen die Leinen aus 200 Meter Tiefe eingeholt werden, das Signal: "Time for dinner". Die pflücken sich die gefangenen Thunfische einfach von der Leine. Und die Fischer versuchen ihrerseits, die Tiere zu vertreiben – auch mit illegalen Methoden. An der Küste wurde schon ein Tier mit einer Kugel im Kopf angespült.

Und den Frust der Wale müssen jetzt die Sportboot-Fahrer ausbaden?

Wir wissen es nicht. Ein Meeresbiologe sagte mir: "Vielleicht bezahlt ihr für etwas, was andere ihnen angetan haben."

Was ist Ihr persönliches Fazit?

Wenn man mal die Walschutz- und "Free Willy"-Brille absetzt, zeigen sich Orcas als bedrohte Wildtiere wie Wölfe oder Bären. Als Raubtiere, mit denen es Konflikte geben kann. Interessanterweise entwickelt sich die öffentliche Diskussion in eine ähnliche Richtung wie die Debatte über "problematische" Wölfe oder Bären. Ich habe auch mit Wolfsforschern gesprochen, und die sagten mir: Zeigt ein Tier ein anormales, für Menschen potenziell gefährliches Verhalten, hat man wenig Chancen, es dem Tier abzutrainieren. Als letztes Mittel bleibt dann nur die "Entnahme", also die Tötung.

Halten Sie die behördlich angeordnete Tötung von Orcas für wahrscheinlich?

Nein. Wenn die Spanier im Naturschutz etwas beschlossen haben, ob das nun der Schutz von Seegras oder einer Orca-Population ist, dann ziehen die das durch. Die Behörden werden es nicht machen. Meine große Sorge ist, dass ähnlich wie bei Wölfen oder Bären besorgte oder überreagierende Besatzungen in die Illegalität abrutschen und Tiere erlegen oder schwer verletzen. Orcas agieren in hohem Maße sozial. Alles ist möglich. Wie bei uns könnten bedrohte Anwohner oder Fischer die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Hinweis: Dieses Interview haben wir bereits im Januar 2023 geführt und am 14.5.2024 aktualisiert.