
Edith Wilson, First Lady von 1915-1921: Die Stellvertreterin
Zu ihren Vorfahren väterlicherseits gehörte Pocahontas, die berühmte Häuptlingstochter und Vermittlerin zwischen Indigenen und englischen Kolonisten. Dass sich Edith Wilson deshalb jedoch besonders für das Schicksal der unterdrückten Stämme Nordamerikas interessiert hätte, kann man nicht behaupten. Als 43-jährige Witwe lernte sie 1915 den ebenfalls verwitweten Demokraten Woodrow Wilson kennen, der seit 1913 das Amt des 28. US-Präsidenten innehatte. Die Hochzeit wurde jedoch nicht pompös im Weißen Haus gefeiert, sondern außerhalb im privaten Kreis – Wilsons erste Frau war erst im Vorjahr gestorben, die neue Ehe mit Edith schien vielen überstürzt. Der Erste Weltkrieg schränkte Ediths Möglichkeiten als First Lady stark ein. Statt rauschender Empfänge gab es bei ihr den "meatless monday" (den "fleischlosen Montag") und den "wheatless Wednesday" (den "weizenlosen Mittwoch"), um der zur Sparsamkeit aufgerufenen Bevölkerung mit gutem Beispiel voranzugehen. Auf dem Rasen des Weißen Hauses ließ sie Schafe grasen, deren Wolle zugunsten des Roten Kreuzes versteigert wurde. Doch dann erlitt der Präsident im Oktober 1919 einen schweren Schlaganfall – und Edith fand sich plötzlich, wohl auch gedrängt von den Ärzten, in einer völlig neuen Rolle wieder: Sie verschleierte den wahren Zustand ihres Mannes vor der Öffentlichkeit, übernahm einige seiner Aufgaben und entschied, welche Staatsangelegenheiten wichtig genug waren, um sie dem kranken Präsidenten vorzulegen. Zeitweise war sie die einzige Verbindung zwischen ihm und dem Kabinett. Ediths Rolle bleibt umstritten: Während einige sie lediglich für eine treue Helferin hielten, die sich über ihre Kräfte hinaus verausgabte, sahen andere in ihr eine Frau von beschränkter Sichtweise mit zu viel Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik der Großmacht. Wieder andere halten sie für eine Vorreiterin: die erste "informelle Präsidentin" der Vereinigten Staaten. 1921 verließ Edith mit ihrem Mann das Weiße Hause und pflegte ihn bis zu seinem Tod 1924. Den Rest ihres langen Lebens widmete sie als Gründerin der Woodrow-Wilson-Stiftung seinem Andenken. 1961 nahm sie sogar noch, kurz vor ihrem Tod, an der Ernennungsfeier des 35. US-Präsidenten teil: John F. Kennedy.
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