Am 4. Juni 1913 gewinnt Edwin Piper auf Aboyeur das renommierte englische Pferderennen Epsom-Derby. Doch an diesem Tag überschattet ein schrecklicher Vorfall seinen Triumph.
500.000 Menschen sind nach Epsom Downs in die südenglische Grafschaft Surrey gekommen – darunter auch König George V. Sein Pferd Anmer tritt im Wettbewerb an. Um 15.10 Uhr nähert sich das Derby seinem Ende, die Pferde nehmen die letzte Kurve. Fast alle sind bereits auf der Zielgraden, als sich eine rothaarige Frau aus den Zuschauerreihen löst, sich unter dem Geländer hindurch duckt und auf die Rennbahn tritt. Im vollen Galopp, mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 50 km/h, prallt eines der letzten Teams aus Pferd und Jockey gegen die Frau. Es ist das Pferd des Königs. Anmer strauchelt, das Pferd und sein Reiter Herbert Jones gehen zu Boden.
Er ist kurz bewusstlos, trägt unter anderem eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm davon. Auch die Frau ist gestürzt – und schwer verletzt. Regungslos bleibt sie auf der Rennbahn liegen, nicht ansprechbar. Man bringt sie ins Epsom Cottage Hospital. Doch auch dort kommt sie nicht wieder zu Bewusstsein. Am 8. Juni 1913 erliegt Emily Davison ihren Verletzungen.
Noch heute erinnern sich viele Menschen im Vereinigten Königreich an Emily Davison. Sie war eine britische Suffragette, eine Aktivistin im Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts. Durch ihren tragischen Tod wurde sie zu einer Märtyrerin der frühen britischen Frauenrechtsbewegung.
Von der Gouvernante zur Suffragette
Am 11. Oktober 1872 wurde Emily Davison in Roxburgh House in Greenwich in der Grafschaft Kent geboren. Die Tochter des Geschäftsmanns Charles Davison und seiner zweiten Frau Margaret besucht die Kensington Highschool und studiert dann am Royal Holloway College der Universität London englische Literatur. Kurz vor ihrem Abschluss stirbt ihr Vater, um ihre Ausbildung weiter zu finanzieren, muss sie fortan als Lehrerin und Gouvernante arbeiten. Das Studium schließt sie am St. Hugh's College in Oxford mit Auszeichnung ab. Doch an der Universität bleiben, forschen und lehren darf sie nicht. Weil sie kein Mann ist. Auch wählen dürfen Frauen in Großbritannien nicht – noch nicht.
Um das zu ändern, hat eine Gruppe um die Aktivistin Emmeline Pankhurst 1903 die Organisation Women's Social and Political Union gegründet. Davison tritt drei Jahre später in die WSPU ein, besucht Versammlungen und inszeniert öffentlichkeitswirksame Aktionen. In dem Nachrichtenblatt der Gruppe wird Davison später als "eine der engagiertesten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Union" bezeichnet.

Alles für "Votes for Women"
Und sie fällt auf. Wegen Störung der öffentlichen Ordnung wird Davison im Frühjahr 1909 erstmals festgenommen. Nach einer kurzen Haftstrafe setzt sie ihre Aktionen fort. Gemeinsam mit anderen Aktivistinnen versucht sie, dem britischen Premierminister eine Petition zu überreichen, die das Wahlrecht für Frauen fordert. In den Sommermonaten des Jahres 1909 sitzt Davison mehrfach im Gefängnis. Ihr Leben wird zu einer scheinbar endlosen Schleife aus Protest und Haft im Kampf für das Frauenwahlrecht.
1910 scheitert eine Gesetzesinitiative, auf die die Aktivistinnen große Hoffnungen gesetzt hatten. Diese Niederlage führt schließlich dazu, dass die Suffragetten sich radikalisieren. 1911 zündet Davison Briefkästen an. Im September wirft sie während einer Sitzung führender Politiker der Liberal Party Eisenkugeln durch die Fenster des Besprechungsgebäudes in Manchester – stets unter der Parole "Votes for Women" ("Wahlen für Frauen"). Im November 1912 soll Davison auf offener Straße einen Mann ausgepeitscht haben. Sie hatte ihn für den einflussreichen Politiker Lloyd George gehalten, der einige Jahre später britischer Premierminister wird. Wegen des Angriffs zu zwei Monaten Arrest verurteilt, tritt sie in der Haft in einen Hungerstreik und wird zwangsernährt.
Als Davison wenige Jahre später auf die Rennbahn in Epsom läuft, hat sie bereits zahlreiche Inhaftierungen, Hungerstreiks und Zwangsernährungen hinter sich. Einmal soll sie sich selbst eine Treppe hinuntergestürzt haben. "Im Nachhinein ist Emily Davison zum Inbegriff der militanten Suffragette geworden", schreibt die englische Historikerin Elizabeth Crawford in "The Women's Suffrage Movement". "Die Art und Weise, wie Emily Davison starb, erschien damals wie heute so bizarr, so öffentlich, ihre Absicht, wenn sie nicht sterben wollte, so naiv, dass davon alle Berichte über ihr Leben geprägt worden sind."
Bis heute ist unklar, ob sich Davison am Tag des Epsom-Derbys bewusst vor das Pferd des Königs warf. Einige Wissenschaftler vermuten, dass sie das royale Rennteam spektakulär zu Fall bringen wollte. Vielleicht ging es ihr auch darum, ein Abzeichen der WSPU am Zaumzeug des Pferdes anzubringen. Zwei davon fand man später in ihren Taschen, auf ihnen stand "Votes for Women".
Tausende marschieren in Trauer

Am öffentlichen Trauermarsch für Davison am 14. Juni 1913 in London nehmen mehrere Tausend Menschen teil – auch Hunderte Männer, es ist die letzte große Kundgebung der britischen Suffragetten vor dem Ersten Weltkrieg. In weißen Kleidern begleiten sie Davisons Sarg zum Bahnhof King's Cross. Von dort bringt ihn ein Zug nach Morpeth, Northumberland, wo Davison auf dem Friedhof St. Mary's begraben wird.
Zwar erhalten 1919 einige Britinnen das Wahlrecht. Auch in Deutschland dürfen Frauen seit 1918 wählen, mit Marie Juchacz spricht die erste Frau im Reichstag. Doch es vergeht noch fast ein Jahrzehnt, bis 1928 endlich alle Frauen in Großbritannien die gleichen Wahlrechte erhalten wie die Männer.