Selbst, wenn alle Länder weltweit ihre zugesagten Klimaziele einhalten, würde sich die Erde bis zum Jahr 2100 wahrscheinlich um 2,7 Grad Celsius um Vergleich zur vorindustriellen Zeit erwärmen - mit gravierenden Folgen für die Arktis. Eine Studie im Fachblatt "Science" zeichnet das drastische Bild eines Nordpolargebietes, das kaum noch wiederzuerkennen wäre.
Zuletzt war die Arktis vor 130.000 Jahren länger eisfrei
"Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass der Mensch schon heute die Macht hat, ganze Landschaften von der Oberfläche unseres Planeten zu tilgen", wird Polarexperte und Mitautor Dirk Notz von der Universität Hamburg in einer Mitteilung zitiert. Denn bei einer Erwärmung von 2,7 Grad Celsius werde das jetzt noch von Meereis bedeckte Nordpolarmeer im Sommer monatelang eisfrei sein. Dies sei ein in der modernen Menschheitsgeschichte beispielloser Zustand - zuletzt war die Arktis vor 130.000 Jahren längere Zeit eisfrei.
Ferner würden schmelzende Gletscher in Grönland 20 Zentimeter zum Anstieg des globalen Meeresspiegels beitragen. Das zunehmende Tauen des Permafrostbodens würde hingegen zum einen zusätzliches CO2 freisetzen. Zum anderen würden Böden für Häuser, Straßen und Brücken instabil.
Eisbären und manche Seevögel könnten regional aussterben
Für ihre Studie nutzte die Gruppe den Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) als Ausgangspunkt. Die Forschenden kombinierten die Simulationen von Klimamodellen mit Messdaten von Satelliten und aktualisierten das Wissen aus dem Bericht anhand von Studien. Dabei konzentrierten sie sich auf drei Bereiche der arktischen Umwelt: das arktische Meereis, den Grönländischen Eisschild und den arktischen Permafrost. Für diese drei Bereiche zeichneten sie die Entwicklung von der vorindustriellen Zeit über den heutigen Zustand bis hin zu einem Szenario für das Jahr 2100 mit 2,7 Grad Celsius weltweiter Temperaturerhöhung nach.
Zusammengefasst könnten sich bei dieser Erwärmung folgende Auswirkungen auf die Arktis zeigen:
- Die Lufttemperaturen werden vermutlich an jedem Tag des Jahres die vorindustriellen Temperaturextreme übersteigen.
- Der Arktische Ozean wird jeden Sommer für mehrere Monate frei von Meereis sein.
- Die Fläche des Grönländischen Eisschilds, die mehr als einen Monat lang Oberflächentemperaturen über 0 Grad Celsius aufweist, wird sich im Vergleich zu vorindustriellen Bedingungen vervierfachen. Das wird zu einem schnelleren Anstieg des globalen Meeresspiegels führen.
- Der oberflächennahe Permafrost wird im Vergleich zum vorindustriellen Niveau um 50 Prozent zurückgehen.
In ihrer Studie warnen die Forschenden: "Unsere Analyse zeigt deutlich, dass bei einer globalen Erwärmung von 2,7 Grad Celsius die Arktis, wie wir sie heute kennen, bis zur Unkenntlichkeit verändert wird." Die Folgen dieser Entwicklungen seien drastisch, sowohl für das Ökosystem Arktis als auch für die dort lebenden Menschen. So seien arktische Fische und Plankton nicht an das Leben im wärmeren Wasser angepasst, die entsprechenden Bestände würden voraussichtlich schrumpfen. Ebenso bedroht bis hin zum möglichen regionalen Aussterben seien Eisbären und manche Seevogelarten.
Das Schmelzen des Meereises werde zudem Jagd- und Transportwege für indigene Gemeinschaften zerstören. Ferner erhöhe der Anstieg des Meeresspiegels das Risiko für Küstenerosion, Überflutungen und den Salzwassereintrag in Süßwasserreservoirs.
"Wir verändern den Planeten radikal"
Hauptautorin Julienne Stroeve, die am US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center (NSIDC) und an der kanadischen Universität Manitoba forscht, fasst zusammen: "Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der Rest des Planeten. Bei einer globalen Erwärmung von 2,7 Grad Celsius werden wir in dieser Region extremere und kaskadenartigere Auswirkungen erleben als anderswo, darunter Meereis-freie arktische Sommer, ein beschleunigtes Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds, einen weit verbreiteten Verlust von Permafrost und extremere Lufttemperaturen." Diese Veränderungen würden Infrastrukturen, Ökosysteme, gefährdete Gemeinschaften und die Tierwelt zerstören.
"Wir haben noch nicht einmal das extremste Szenario untersucht. 2,7 Grad Erwärmung bekommen wir, wenn alle Staaten ihre vereinbarten Klimaziele erfüllen - was nicht garantiert ist", ergänzt Notz. "Wir verändern den Planeten radikal und sollten uns unserer Macht und Verantwortung deutlich bewusst sein. Die Arktis ist nur ein Beispiel, tatsächlich liegt die Zukunft des gesamten Planeten in unseren Händen."
Nicht nur die Arktis ist betroffen
Die Studie ist Teil einer "Science"-Sonderausgabe über die Forschung zu den gefrorenen Gebieten der Erde - von der Arktis bis zur Antarktis - und wie diese sich aufgrund des Klimawandels verändern. In einer weiteren Arbeit werden Wissenslücken zur Stabilität des antarktischen Eisschilds und Folgen seines weiteren Verlusts beleuchtet. Eine dritte Studie befasst sich mit der Artenvielfalt in der Antarktis, während ein vierter Artikel geopolitische Herausforderungen für die Arktisforschung erörtert.