Fast 4000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem Westzipfel Cornwalls im Süden Englands und der heutigen syrischen Mittelmeerküste – den beiden äußersten Punkten der normannischen Herrschaftsgebiete um das Jahr 1100. Reisende brauchen damals per Pferd und Schiff Monate für eine solche Strecke, für einen langen Weg voller Gefahren.
Eine gewaltige Distanz, die vor allem belegt, welche Grundeigenschaft die Geschichte der Normannen prägt: Expansion. Ausgangspunkt dieses Ausgreifens, der fast permanenten Erweiterung ist die Normandie in Nordfrankreich, selbst ja einst das Produkt einer Wanderung in die Ferne: Plündernde Wikinger kamen aus Skandinavien hierher, ließen sich um 900 nieder und entwickelten in der Folge die normannische Identität.
Für gut ein Jahrhundert spielt sich die Geschichte der neuen Völkerschaft zunächst in dem Land um Rouen ab, das die Herrscher in mehreren Schritten vergrößern. Dann aber drängen Normannen voller Ehrgeiz in zwei gänzlich andere Regionen vor, gen Norden und Süden: 1066 wagt Herzog Wilhelm den Sprung über den Ärmelkanal, erobert mit einer großen Streitmacht den englischen Thron und gebietet bald über einen Gutteil Britanniens (später werden normannischstämmige Adelige auch in Irland herrschen).
Zugleich unterwerfen in dieser Zeit normannische Edelleute, als Söldner in die weit entfernte Gegend gekommen, nach und nach den südlichen Teil Italiens. Gegen lokale Fürsten und den byzantinischen Kaiser, schließlich auch gegen muslimische Emire auf Sizilien setzen sie sich durch und begründen 1130 das zweite normannische Königtum: ein ausgedehntes, machtvolles Reich im Herzen des Mittelmeers.
Noch deutlich weiter im Osten ist unterdessen auch die letzte große Herrschaft der Normannen entstanden. Auf dem ersten Kreuzzug ins Heilige Land errichtet ein normannischer Anführer, der von Italien aus aufbricht, um 1100 an der Levante, in einem heute zur Türkei und zu Syrien gehörenden Gebiet, einen Kreuzfahrerstaat: das Fürstentum Antiochia, das von all ihren Besitzungen am längsten unter Hoheit der Normannen verbleiben wird.
In einem Bogen von Nordwesteuropa bis an den Vorderen Orient zieht sich nun das normannische Einflussgebiet – allerdings nie in Form eines zusammenhängenden Herrschaftsraumes, sondern als Ansammlung zum Teil sehr verschiedenartiger Territorien. Eine bedeutende Macht des Mittelalters – aber eine der vielen Orte.