Geo: Herr Dr. Philipp, Sie haben die Ausstellung "Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst" im Museum Barberini kuratiert. Warum haben Sie dieses Thema ausgesucht?
Dr. Michael Philipp: Das Einhorn ist ein wesentliches Thema der Kunst- und Wissensgeschichte. Dieses magische Tier ist in keinem Zoo zu sehen. Niemand hat es jemals lebend zu Gesicht bekommen und doch weiß jeder, wie ein Einhorn aussieht. Obwohl Einhörner nicht existieren, gibt es unzählige Darstellungen von ihnen in Kirchen, Museen oder Bibliotheken.
Wie können wir uns ein Bild von etwas machen, das es nicht gibt?
Von Anfang an ist das Einhorn eine Frage der künstlerischen Fantasie. Schon in der Antike beschrieben römische Gelehrte wie Plinius der Ältere, Sulinus oder Claudius Aelianus das Einhorn – alle auf unterschiedliche Art und Weise. Künstler können ihrer Kreativität freien Lauf lassen und das Einhorn so erschaffen, wie sie es sich vorstellen. Es gibt kein reales Vorbild. Deshalb gibt es vielfältige Darstellungsformen. Unsere heutige Vorstellung von einem weißen, pferdartigen Wesen mit einem Stirnhorn ist nur eine der Möglichkeiten.
Welche gibt es noch?
Mal sah das Einhorn wie ein Esel aus, mal hatte es eher die Gestalt eines Ziegenbocks. Die Künstler hatten große Freiräume, sich auszudenken, wie ein Einhorn aussehen könnte. Diese Vielfalt ist auch in unserer Ausstellung zu sehen. Wir versammeln rund 150 Werke, darunter Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Manuskripte, Wandteppiche oder Videoarbeiten. Damit bilden wir eine Zeitspanne vom zweiten Jahrtausend v. Chr. bis in die Gegenwart ab. Wir zeigen Einhörner mit unterschiedlichstem Aussehen: rote Einhörner, blaue Einhörner, bei manchem ist das Horn lang, bei anderen kurz und bei wieder anderen gebogen.
Gibt es ein Werk, das Ihnen besonders gefällt?
Es gibt viele schöne Werke in der Ausstellung. Ein Bildteppich aus der St. Gotthardkirche in Brandenburg an der Havel hat jedoch eine besondere Geschichte. Dargestellt sind eine Frau, ein Einhorn und eine Jagdgesellschaft. Seit unbekannter Zeit gehört der Wandteppich der brandenburgischen Kirche. Keiner weiß, woher die Tapisserie kommt oder was sie aussagt, denn bisher ist sie in der Literatur nicht bekannt. Der Wandteppich ist 5,50 Meter lang. Ein Werk solcher Größe als Leihgabe anzufragen, ist ungewöhnlich, die Kirchengemeinde sagte trotzdem zu. Dann musste die Tapisserie restauriert werden, und nun wird sie in unserer Ausstellung erstmals einem größeren Publikum präsentiert.
Heute ist das Einhorn allgegenwärtig – in der Popkultur, als Werbung oder in den Kinderzimmern. Inwiefern ist die Ausstellung auch Teil der Kommerzialisierung des Unicornismus?
Die heutigen Erscheinungsformen des Einhorns haben wenig mit Kunst zu tun. Dabei geht es um die Kommerzialisierung des Wunderwesens. Wir haben eine kunsthistorische Ausstellung gemacht, bei der es darum geht, was Künstler mit dem Einhorn verbunden haben. Wir haben uns angeschaut, welche Bedeutungen das Einhorn in der Geistes-, Religions-, Kultur- und Naturgeschichte hatte und hat. Dem liegt eine seriöse Forschung zu Grunde, die keine Berührungspunkte mit der Kommerzialisierung des Einhorns hat.
Wo kommt das Einhorn her? Wer hat sich dieses Wesen zuerst ausgedacht?
Zum ersten Mal taucht das Einhorn in der naturkundlichen Literatur um 400 vor unserer Zeit auf. Ktesias von Knidos, ein Arzt, der vor mehr als 2400 Jahren in Persien lebte, hat ein Buch über Indien verfasst. Er beschreibt darin, dass es in Indien wilde Esel gibt, die nur ein Horn haben. Es ist heute die älteste erhaltene Quelle, in der ein derartiges Tier benannt wird.
Also kommt das Einhorn ursprünglich aus Indien?
Ja, der Mythos vom Einhorn beginnt in Indien. Er handelt von einem Gazellen-Horn, dem Sohn einer Gazelle, der aber nur ein Horn hatte – eine sehr komplizierte Geschichte. Von Indien über Tibet und China, Japan, Persien und Ägypten kam diese Erzählung schließlich um das 7. Jahrhundert n. Chr. auch nach Europa.
Die Faszination für dieses Fabeltier ist jahrtausendelang ungebrochen. Warum hält sie bis heute an?
Das Einhorn stand und steht für Freiheit und Unbezähmbarkeit, für Reinheit und Unschuld, für Natürlichkeit und Zuneigung. Es ist ein Phantasma, etwas, das wir gerne hätten, aber nicht kaufen, fangen oder anderweitig bekommen können. Schon in antiken Quellen steht, dass man Einhörner nicht lebend fangen kann, weil sie schneller als jedes andere Lebewesen laufen. Diese Besonderheit eines Tieres, das es gibt, aber dessen man nicht habhaft werden kann, hat die Menschen schon immer fasziniert. Es steht für das Unverfügbare. Da geht es nicht um seine Gestalt mit vier Füßen und einem Horn.
Das Einhorn in der Kunst - zwischen Fantasie, Glaube und Wissenschaft
Das Einhorn in der Kunst - zwischen Fantasie, Glaube und Wissenschaft
Worum geht es dann?
Das Einhorn ist ein Wunschbild per se: Es symbolisiert die Vorstellung des Schönen, des Unerreichbaren, des Fantastischen. Das macht das Einhorn zu einem Gegenpol unserer durchrationalisierten Welt. Es ist eine Ausnahmeerscheinung, die sich gegen Zweckbestimmung, allgegenwärtige Verfügbarkeit und Materialismus stellt. Dieses Fabeltier dient als Projektionsfläche für unerfüllbare Wünsche und Sehnsüchte, es ist ein Grenzgänger zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
Bis in die Frühe Neuzeit glaubten die Menschen an die Existenz des Einhorns. Warum?
Einhörner werden mehrfach in der Bibel erwähnt: in den Geschichten über die Schöpfung, das Paradies, die Sintflut und die Arche Noah, sowie in christlichen Legenden wie der Versuchung des heiligen Antonius oder dem Tod des heiligen Stephanus. Die Menschen glaubten, was in der Heiligen Schrift steht, muss stimmen. Auch Plinius der Ältere schreibt über das Einhorn – er war lange die Autorität der Naturkunde. Zudem gab es Reisende, die über Einhörner in fernen Ländern berichteten. Und es gab das Horn des Einhorns. Bis in die frühe Neuzeit hielten die Menschen den Zahn des Narwals für das Horn des Einhorns. Auch Naturforscher glaubten: Wenn es die Hörner gibt, müssen diese Lebewesen existieren. Sie erforschten das Tier sogar.
Wie muss man sich die Wissenschaft um das Einhorn vorstellen?
Dem Horn wurde Heilkraft zugesprochen. Die Frage seiner medizinischen Wirksamkeit trieb die Menschen lange Zeit um. Naturforscher experimentierten dazu mit Tieren wie Hunden und Tauben. Ein Pulver aus dem Horn des Einhorns war ein Heilmittel gegen fast alles, Fieber, Epidemien, auch die Pest – und gegen den Schwarzen Tod half eigentlich gar nichts. Erst im 16. Jahrhundert begannen die Naturwissenschaftler, das zu hinterfragen.
Wie kommt es zur Entzauberung des Einhorns? Ab wann beginnen die Menschen an seiner Existenz zu zweifeln?
Das Einhorn ist paradigmatisch für die beginnende Naturwissenschaft im 16. Jahrhundert. Damals begannen Wissenschaftler, die Quellen zu hinterfragen. Sie zweifelten die Behauptungen in der Literatur an und suchten Belege dafür. Einer dieser Gelehrten war Conrad Gessner, ein Arzt aus Zürich. Er war einer der Ersten, die eine moderne Skepsis in die Naturwissenschaft hineinbrachten.
Was meinen Sie mit "moderner Skepsis"?
Gessner druckte in seiner vierbändigen Naturkunde mehr als 1000 Holzschnitte von Tieren und Pflanzen ab. Bei der Abbildung des Einhorns schrieb er: "So stellen die Künstler es heute dar, aber etwas Genaues weiß ich nicht." Damit verweist er auf das vorhandene Bildgedächtnis und merkt gleichzeitig seine Unwissenheit an. Dahinter steckt Skepsis. Es ist ein grandioses Dokument für die beginnende kritische Wissenschaft. Gessner hält sich in seinem Urteil zurück, weil er das Tier nicht selbst gesehen hat seine Existenz nicht beweisen kann. Auf dieser Denkweise fußt die moderne Wissenschaft. Gessner denkt als einer der Ersten darüber nach, wo unser Wissen herkommt, wie wir Wissen überprüfbar machen können. Das sind Fragen, die uns heute immer noch genauso beschäftigen. Gessners "Historia animalium" ist in unserer Einhorn-Ausstellung zu sehen. So wie dieses laden alle Objekte in der Ausstellung zum Nachdenken ein.