Ukraine-Krieg Russische Soldaten auf der Flucht: "Er schoss sich in sein Bein, um der Front zu entkommen"

Autostau an einer Grenzstation
Kurz nach der Teilmobilmachung in Russland nahm auch die NGO "Idite lesom" ihre Arbeit auf. Sie unterstützt Deserteure und Wehrpflichtsverweigerer
© Vano Shlamov / AFP
Amerikanische Geheimdienste gehen davon aus, dass in der Ukraine bisher über 300.000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden. Iwan Tschuwiljajew arbeitet für eine russische NGO, die hilft, wenn Männer desertieren oder den Wehrdienst umgehen möchten

GEO: Herr Tschuwiljajew, wie vielen Menschen hat die Organisation "Idite lesom" bislang geholfen?

Iwan Tschuwiljajew: Es sind über 30.000, heute genau 31.161. 

Frauen und Männer?

Wir haben eigentlich nur mit Männern zu tun. Wenn sich Frauen bei uns melden, dann geht es um ihre Ehemänner, ihre Söhne, also auch um Männer. 

Wie helfen Sie genau? 

Wir bieten genau die Unterstützung, die jemand braucht, zum Beispiel juristische oder psychologische Hilfe.

Drei anonymisierte junge Menschen mit selbstgemachtem A4 Papier mit der Aufschrift "Stop Putin"
Auf dem Telegram-Kanal postet "Idite lesom" auch Anti-Kriegs-Bilder", in diesem Fall drei Schüler aus einer Donetsker Schule mit dem Zettel "Stop Putin"
© Idite Lesom

Können Sie einen typischen Fall schildern? 

Während der Teilmobilmachung im September 2022 meldete sich zum Beispiel ein Mann bei uns. Er wohnt in Tula, südlich von Moskau, macht aber das, was viele Russen machen. Er fährt regelmäßig in die Hauptstadt, arbeitet dort zwei oder drei Wochen als Fahrer oder Kurier und kehrt dann mit dem verdienten Geld nach Hause zu seiner Familie zurück. Wenn er in Moskau ist, übernachtet er in billigen Arbeiterunterkünften. Im Herbst 2022 kamen plötzlich Militärpolizisten in diese Unterkunft, sehr früh am Morgen. Sie schalteten die Lichter an, sammelten die Ausweise der Männer ein und nahmen sie mit in ein Rekrutierungsbüro. Dort sollten die Männer ihren Marschbefehl unterschreiben. Innerhalb weniger Tage oder Wochen wäre dieser Mann an der Front gewesen. 

Was hat der Mann getan? 

Er hat uns angeschrieben. 

Wie? 

Wir arbeiten mit einem Chatbot des Messenger-Dienstes Telegram. Uns unterstützen Hunderte Freiwillige, die in so einer Situation sofort beraten können. 

Wie ging es mit dem Mann weiter?

Er schrieb also mit seinem Telefon: "Ich war eben noch im Hotel, die Polizei hat mich geholt, sie haben meinen Ausweis. Ich soll unterschreiben. Ich weiß nicht, was ich tun soll." Und wir haben ihm erklärt, dass er sich ein Papier und einen Stift besorgen soll. Er soll einen Antrag schreiben, dass er nicht an einem Krieg teilnehmen möchte. Er hat ein verfassungsmäßiges Recht auf einen alternativen Dienst, selbst während der Mobilmachung. Das Militär könnte ihn dann zum Beispiel immer noch als Fahrer oder in einem Lazarett einsetzen. In diesem Fall haben sie ihn aber einfach gehen lassen, nachdem er den Antrag geschrieben hatte. Er kehrte zu seiner Familie nach Tula zurück und hat bis jetzt nie wieder vom Militär gehört.  

Woher wissen die Menschen in Russland, dass es dieses Netzwerk gibt, das ihnen in solchen Situationen helfen kann? 

Das ist meine Aufgabe, meine Pflicht sogar. Ich habe 20 Jahre als Journalist gearbeitet, ich habe alle Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit genutzt, um die Russen wissen zu lassen, dass wir für sie da sind. 

Leben Sie oder die anderen Freiwilligen in Russland?

Das wäre zu gefährlich. Ich habe Russland nach Kriegsbeginn 2022 verlassen. Ich war wie gesagt Journalist. Die Regierung hat Gesetze erlassen, unter denen es keinen unabhängigen Journalismus mehr geben kann. Es war einfach sinnlos, dort weiterzuarbeiten. 

Melden sich auch Deserteure bei Ihnen? 

Ja. Etwa 50 Prozent unserer Anfragen beziehen sich auf Fälle wie den, den ich eben geschildert habe. Ein Viertel kommt von jungen Männern, Schulabgängern oder Studenten, die wissen möchten, wie sie dem Wehrdienst entgehen können. Und der Rest der Meldungen kommt von Männern aus dem Krieg, Soldaten, die kapitulieren wollen, an Flucht denken oder schon geflohen sind und sich irgendwo verstecken.

Von wie vielen Deserteuren sprechen wir? 

Wir haben mehrere Tausend Menschen dazu beraten. Und 600 Männer sind mit unserer Hilfe aus dem Land geflohen. 

Satellitenaufnahme eines Autostaus
Am 21. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Teilmobilmachung in Russland. Wenige Tage später nahm ein Satellit ein Foto von wartenden Autos vor der russisch-georgischen Grenze auf. Vor allem Männer wollten vermeiden,  an die Front geschickt zu werden 
© Handout / Satellite Image 2022 Maxar Technologies / AFP

Können Sie auch so einen Fall schildern? 

Ein Mann, mit dem wir schon sehr früh in Kontakt waren, war ein Berufssoldat, der vor Kriegsbeginn an den militärischen Übungen nahe der ukrainischen Grenze teilnahm. Er und seine Kameraden waren da schon sehr besorgt, dass es Krieg geben würde. Aber ihre Vorgesetzten versicherten immer wieder, das würde auf keinen Fall passieren. In der Nacht zum 24. Februar wurde die Truppe geweckt, es hieß, die Übung sei zu Ende, die Einheit werde nach Hause fahren. Sie bemerkten erst, dass das nicht stimmte, als sie durch die Busfenster die ukrainischsprachigen Verkehrsschilder sahen. Der Mann landete in Tschernihiw, er war dort zwei oder drei Wochen, die Frontlinie verlief direkt durch die Stadt. Später dann war er in der Region Donetsk stationiert. Dort verletzte er sich selbst. Er schoss sich in sein Bein, um der Front zu entkommen. Er war dann einige Zeit im Krankenhaus, und als er nach Hause entlassen wurde, halfen wir ihm, nach Kasachstan zu entkommen. 

Warum nach Kasachstan?

Diese Berufsmilitärs besitzen weder einen Reisepass noch ein Visum. Sie können nur in bestimmte Länder reisen, nach Kasachstan, Armenien oder Kirgistan. Wir organisieren die Routen, buchen Flüge oder Busse und helfen mit Geld, wenn es gebraucht wird.    

Diese Deserteure kommen aus einem Kriegsgebiet, sie sind eventuell traumatisiert, allein, ihre Familien sind noch in Russland, und sie haben vermutlich kaum Geld. Wie unterstützen Sie diese Männer? 

Das schaffen wir mit unseren Mitteln nicht. Aber es gibt Organisationen, die das übernommen haben. In Armenien arbeitet zum Beispiel die Eriwan-Helsinki-Gruppe. Die hilft den Männern, ihren Aufenthaltsstatus zu klären, eine Wohnung und Arbeit zu finden. Nach Russland können sie nicht zurück. Dort werden sie von der Militärpolizei gesucht.  

Sie haben einmal öffentlich gesagt, es brauche zwei Dinge, um diesen Krieg zu beenden. Die Ukraine müsse gestärkt und Russland geschwächt werden. Wie meinen Sie das? 

Ich finde es richtig und wichtig, dass die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützt wird. Dabei können die Russen aber nicht helfen. Sie können jedoch ihre eigene Armee schwächen. Sie können dabei helfen, dass diejenigen, die bei diesem Krieg nicht mitmachen möchten, Wege finden, zu fliehen. Ich möchte die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland am Leben erhalten, für eine sichere und friedliche Zukunft.  

Nehmen Sie eine Veränderung wahr, seitdem "Idite lesom" vor eineinhalb Jahren die Arbeit aufgenommen hat?

Am offensichtlichsten ist, dass sich die Menschen nun mehr vom Krieg betroffen fühlen. Um ehrlich zu sein, interessieren sich die Russen im Fernen Osten oder an der Wolga null Komma null dafür, wer gerade Präsident ist, was die Regierung macht. Sie haben sich damals nicht für den Krieg in Tschetschenien interessiert, später nicht für den in Georgien und zunächst auch nicht für den in der Ukraine. Das hat sich geändert. Jetzt fühlen sich viele Menschen wie Geiseln ihrer eigenen Regierung. 

Unterstützen viele Russen den Krieg? 

Es gibt keine Unterstützung für diesen Krieg, keine Unterstützung für Wladimir Putin und für seine Politik. 

Verschneite Grenzstation mit konfiszierten Fahrrädern in einem Container
Auf der Suche nach einem Ausweg, versuchten einige Russen auch nach Finnland zu entkommen. Im November 2023 konfiszierte die finnische Grenzpolizei Fahrräder, mit denen russische Asylsuchende, die Grenze überquert hatten 
© Emmi Korhonen / Lehtikuva / AFP

Aber Sie sehen ja nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Bevölkerung, den Teil, der Ihnen auf Telegram schreibt. 

Ich kann nur sagen, dass wir anfangs die mangelnde Bereitschaft der russischen Bevölkerung, sich an diesem Krieg zu beteiligen, vollkommen unterschätzt haben. Als wir mit sieben Leuten anfingen, dachten wir, wir machen das ein paar Monate, erledigen die dringenden Fälle. Und das wars. Aber wir bekommen jeden Tag neue Anfragen, wir können nicht aufhören. Diese Leute möchten nichts mit Wladimir Putin und nichts mit dem Krieg zu tun haben. 

"Idite lesom" heißt übersetzt "Geht durch den Wald". Was soll das heißen? 

Es heißt erst einmal genau das. Die Soldaten sollen von der Front weggehen, im Wald verschwinden. Wir helfen ihnen dann. Im Russischen benutzt man den Ausspruch aber auch als Phrase, wenn man sagen möchte: Fuck yourself! Das ist unsere Botschaft an die russische Regierung.