Interview Grausame Spiele, skrupellose Kaiser: Warum war die Antike so blutig?

Römer und Germanen in einer Schlacht
Wildes Kampfgetümmel: Die Römer führten enorm blutige Kriege und richteten teils schwere Massaker an. Schon antike Denker diskutierten über die Frage, welche Mittel im Krieg erlaubt sind – und welche nicht (Gemälde von 1876)
© Sabine Ahlbrand-Dornseif / LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster
Der Historiker Michael Sommer untersucht die Gewaltgeschichte der Antike – und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Wie sich das Blutvergießen auf den Alltag der Römer ausgewirkt hat

GEO: Herr Professor Sommer, das Buch, das Sie gemeinsam mit dem Historiker und Verlagslektor Stefan von der Lahr geschrieben haben, heißt: "Die verdammt blutige Geschichte der Antike ohne den ganzen langweiligen Kram." Ist das noch Wissenschaft oder schon Geschichts-Boulevardismus?

Prof. Michael Sommer: In unserem Buch steckt natürlich viel Wissenschaft, aber es ist keine Wissenschaft. Ich würde das als Wissenschaftskommunikation bezeichnen: Wir geben uns Mühe, sozusagen barrierefreien Zugang zur Antike zu ermöglichen, also Menschen für diese Epoche zu interessieren, die sich nicht ständig mit den Römern beschäftigen oder griechische Sagen lesen.

Aber verdecken 350 Seiten Gewaltgeschichte nicht all die anderen Aspekte der Antike – Kunst, Architektur, Religion, und auch ihre unbestrittenen Errungenschaften?

Michael Sommer blickt in Kamera
Michael Sommer ist Professor für Alte Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
© Christoph Mukherje

Wir leugnen ja nicht, dass es Errungenschaften in der Antike gab. Und auch das ist eine Erkenntnis aus unserem Buch: Die Menschen in der Antike schlugen sich nicht nur permanent die Köpfe ein, sondern dachten auch sehr intensiv darüber nach, wie sich Gewalt überwinden und ein friedliches Zusammenleben organisieren lässt. 

Insgesamt aber schildern Sie die Antike als eine Zeit, in der Kriegsverbrechen, blutige Unterhaltungsspiele und tödliche Verschwörungen quasi alltäglich waren. Woher rührte diese Gewalt? 

Ich glaube, in menschlichen Gesellschaften steckt grundsätzlich ein Gewaltpotenzial. In der Antike wurde dieses Potenzial durch die Idee, dass Menschen nicht nur ungleich, sondern auch ungleichwertig sind, sicher verstärkt. 

Sie meinen die Sklaverei?

Genau. Die Vorstellung, dass ein Mensch einem anderen als Eigentum gehören kann, senkt Aggressionshemmnisse. In der Antike mussten Sklavinnen ihren Eigentümern grundsätzlich für sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung stehen – allein diese Ausgangslage war ein Einfallstor für Misshandlungen aller Art. Die Menschen damals betrachteten das aber wahrscheinlich gar nicht als Gewalt.

Was ist mit Gladiatorenkämpfen im Amphitheater? Personen, die vor Publikum um ihr Leben kämpfen, das ist doch zweifelsfrei Gewalt?

Für die Bürger im Römischen Reich war das Amphitheater eine Allegorie auf die Welt: Im wilden Raum der Arena schlugen Gladiatoren aufeinander ein, allerdings nach festen Regeln. Das waren quasi domestizierte Kämpfe, mit denen die Römer die zivilisatorische Leistung ihres Reiches feierten, das Gewalt in seiner Mitte eingehegte und unter Kontrolle brachte. Drum herum, im Zuschauerraum, saß das Publikum fein säuberlich gegliedert nach sozialen Rängen. Diese Sitzordnung offenbarte also die Struktur der Gesellschaft. Die Gladiatorenkämpfe waren dementsprechend mehr als einfach nur Volksbelustigung, sie waren ein Sinnbild des Imperiums und aus gutem Grund in religiöse Feierlichkeiten eingegliedert. So wird verständlicher, warum die Römer herumfliegenden Gliedmaßen etwas abgewinnen konnten.

Von einer anderen Form von Gewalt zeugt die antike Kriegsführung. Überlieferte Berichte sind voll von grausamen Massakern. Galt bei Kriegen schlicht das Recht des Stärkeren?

Tatsächlich führten die Römer teils enorm blutige Kriege. Ein Beispiel ist der Feldzug des römisches Statthalters Servius Sulpicius Galba im Jahr 155 v. Chr. auf der Iberischen Halbinsel. Er rückte gegen die Lusitanier vor, die zuvor Raubzüge auf römisches Gebiet unternommen hatten. Angesichts der römischen Offensive wollten deren Stammesälteste mit Galba verhandeln. Der Statthalter stimmte einem Waffenstillstand zu und versprach angemessene Siedlungsplätze – unter der Bedingung, dass die Lusitanier an bestimmten Sammelplätzen ihre Waffen abgeben. Genau das taten sie.

Mosaik von kämpfenden Gladiatoren
Überall in ihrem Imperium veranstalteten die Römer Gladiatorenkämpfe. Dieses antike Mosaik stammt aus der Römischen Villa Nenning im Saarland
© Elmar Pogrzeba / Zoonar.com / imago images

Und dann?

Schlugen die Römer zu. Sie kesselten die wehrlosen Lusitanier ein und brachten sie um: Männer, Frauen, Kinder. Galbas Truppen löschten fast den gesamten Stamm aus. Das Gemetzel hatte genozidale Ausmaße. Interessant ist, was danach passierte: Galba wurde in Rom wegen seiner Kriegsverbrechen angeklagt. Das Verfahren endete zwar mit einem Freispruch – unter anderem, weil der Statthalter die Richter bestochen hatte – trotzdem zeigt uns diese Story, dass es in der römischen Gesellschaft durchaus ein Bewusstsein dafür gab, was im Krieg Recht ist – und was Unrecht.

Wie war das bei Caesar, der später Kriege ebenfalls mit extremer Gewalt führte?

Caesar beging unfassbare Kriegsverbrechen. Im Laufe des Gallischen Krieges im Jahr 55 v. Chr. baten zwei germanische Stämme, die Usipeter und Tenkterer, die von ihren bisherigen Wohnsitzen rechts des Rheins vertrieben worden waren, um die Erlaubnis, sich auf linksrheinischem Gebiet in der römischen Provinz Gallien anzusiedeln. Caesar ließ sich zum Schein auf die Verhandlungen ein, kesselte die Stämme mit seinen Legionen ein und ließ die Flüchtlinge niedermetzeln. 

Und die Reaktion in Rom?

Nun, der Senator Cato der Jüngere forderte, Caesar solle an die Usipeter und Tenkterer ausgeliefert werden. Menschen zu massakrieren, sei mit ethischen Prinzipien nicht vereinbar. Und um einen Krieg zu gewinnen, sei eben nicht jedes Mittel recht. Das ist doch eine Kontroverse, die uns aus der heutigen Zeit bekannt vorkommt.

Illustration zeigt Schiffe in der gefluteten Arena

Antikes Rom Die Seeschlacht im Kolosseum

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Hatte die Brutalität, mit der die Römer Kriege führten, auch mit ihrem Selbstverständnis zu tun?

Sicher. Für die Römer war ihr Imperium eine Mission. Der Überlieferung zufolge hat Jupiter, der höchste Staatsgott, ihnen eine Herrschaft ohne Grenzen in Raum und Zeit übertragen. Nach ihrem Selbstverständnis hatten die Römer das Recht, andere Völker zu unterwerfen.

Zu Gewaltexzessen ist es nicht nur in Kriegszeiten gekommen. Antike Autoren berichten über zahlreiche grausame Taten von Kaisern. Tiberius etwa soll im ersten Jahrhundert n. Chr. täglich Menschen zum Spaß hingerichtet …

… und dabei angeblich besondere Freude verspürt haben, Männer betrunken zu machen, sie an ihren Geschlechtsteilen fesseln zu lassen und möglichst langsam zu Tode zu bringen. Angesichts solcher Geschichten müssen wir uns aber fragen: Sind diese Erzählungen historisch wirklich plausibel?

In der Vorstellung antiker Menschen ging es mit der Welt immer weiter bergab.

Sie meinen, Chronisten haben bestimmte Kaiser mit "Fake News" gezielt diskreditiert?

Zumindest muss man sich die Quellen und die darin erhobenen Vorwürfe im Einzelfall anschauen. Was sollte Tiberius davon gehabt haben, Menschen zum Spaß hinzurichten? Der Sadismus-Verdacht lässt sich historisch nicht gut begründen. Anders sieht es beispielsweise bei Kaiser Domitian aus.

Er soll auf einem Gastmahl die Frauen römischer Senatoren vergewaltigt haben.

Dahinter steckte ein Mittel der Herrschaftssicherung. Domitian setzte Gewalt ein, um ein neues Verhältnis zwischen Kaiser und Senatoren festzuzurren und diesen Männern vorzuführen, wo ihr Platz ist: nämlich nicht neben, sondern unter ihm.

Wie haben die Menschen angesichts von Blutvergießen und Gewaltorgien selbst ihre Zeit wahrgenommen?

Als permanenten Kampf gegen den Abstieg. In der Vorstellung antiker Menschen ging es mit der Welt immer weiter bergab. Der Fortschrittsglaube unserer Gegenwart war ihnen völlig fremd. Das hatte sicher auch etwas mit Unsicherheiten und Gewalterfahrungen zu tun: Kriege, Erdbeben, Dürreperioden, Überschwemmungen und andere Katastrophen konnten jederzeit ihre Existenz gefährden – in ganz anderen Ausmaßen als heute zumindest bei uns in Deutschland und in der westlichen Welt. So etwas wie staatliche Katastrophenhilfe gab es damals nur sehr beschränkt und Versicherungen gegen Hochwasserschäden oder andere Ereignisse schon gar nicht. Dieses Ausgesetztsein hat dazu geführt, dass das Weltbild der antiken Menschen sehr viel pessimistischer war als unser heutiges.

Wie können wir uns das Stadtleben vorstellen? War die Kriminalitätsrate höher als in heutigen Metropolen? 

Das glaube ich nicht, eher im Gegenteil. Das ist besonders vor dem Hintergrund überraschend, dass es in den meisten antiken Städten keine Sicherheitskräfte gab.

Aber wer sorgte denn für Ruhe und Ordnung?

Die Gesellschaften haben eigene Mechanismen entwickelt, auf face-to-face-Ebene. In Rom gab es unter anderem die Patronage, ein Schutz- und Treueverhältnis zwischen einem Patron und teils mehreren hundert Klienten. Daneben gab es die vici, hochgradig organisierte Nachbarschaften in Stadtvierteln. Und schließlich kannten die Römer auch Berufsverbände. Wenn es Zoff gab, schritten diese Instanzen ein und regelten Konflikte, ohne dass der Staat aktiv werden musste. 

Waren die griechische und die römische Antike nun blutrünstiger als andere Epochen?

Das lässt sich so nicht sagen. Jede Epoche ist auf ihre eigene Art blutrünstig, und oft weiß man erst hinterher, was eigentlich das Blutrünstige daran war. Wichtiger ist die Frage, wie sich Gewalt bändigen lässt. Und da hat sich in der Geschichte auf politischer Ebene bei der Lösung von Machtfragen die Demokratie als wirksames Instrument erwiesen. Ich denke, das sollten wir uns gerade heute immer wieder ins Bewusstsein rufen.

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