Shamayim Harris – alias Mama Shu –, war überzeugt vor Schmerz umzukommen. Denn ihr Sohn Jakobi Ra, jüngtes ihrer vier Kinder, wurde mit zwei Jahren von einem Auto erfasst und starb. Am Morgen danach stellte die Frau erstaunt fest noch am Leben zu sein. Für sie der Auslöser ihre Verzweiflung in etwas Positives umzuwandeln. Selbst als zusätzlich ihr ältester Sohn Chinyelu Humphrey in seinem Auto auf Nachbarschaftswache erschossen wurde, klaubte sie all ihre verbliebene Kraft zusammen, um ihr Werk fortzusetzen: "Avalon Village" – das Dorf Avalon. Ein Viertel im US-amerikanischen Highland Park, das sich Dank Mama Shu neu erfindet. Und zu einer Umgebung mutiert, in der es sich wieder zu wohnen lohnt.
Verfall und Müll prägen die Gegend
Denn das Erscheinungsbild der Stadt wird dominiert von leer stehenden Häusern, Verfall, Armut, Müll am Straßenrand und einer Infrastruktur, die ihren Namen nicht verdient. Als die Konzerne Chrysler und Ford dort ansässig waren, prägte Wohlstand die Gemeinde im Staat Michigan, knappe neun Kilometer vom Stadtzentrum Detroits. Aus wirtschaftlichen Gründen legten sie ihre Werke still oder wählten andere Standorte. Highland Park wurde seinem Schicksal überlassen.
Die Stadtbibliothek, das Wasserwerk und weiterführende Schulen schlossen ihre Pforten, die Straßenlaternen wurden abmontiert. Ein Los, das Industriestandorte a. D. in der ganzen Welt teilen. Um das Bild des Untergangs abzurunden, verlor die Gemeinde ihren Status als "Stadt der Bäume", weil Pilze die Ulmen zerstörten. Über 50.000 Bewohner zogen ihren Arbeitsplätzen hinterher, in Orte mit angenehmerem Ambiente. Zurück blieben weniger als 9000 Menschen, außerdem Tristesse, Geldmangel und Kriminalität.

Aber Mama Shu entschied sich zu bleiben. Als im Jahr 2008 eines der leer stehenden Gebäude auf der "Avalon Street" für 5000 Dollar zum Verkauf stand, bot sie kurzerhand 3000 und wurde Hausbesitzerin. Das Geld stammte von ihrem Gehaltsscheck, außerdem sammelte sie bei Freunden und Bekannten. Mit Freiwilligen verwandelte sie die Ruine in ein Gemeinschaftszentrum: Der Grundstein für Avalon Village.
Inzwischen besteht das Dorf aus 5 Häusern und über 40 Parzellen Land. Dank Mama Shus Talent für Organisatorisches und die Beschaffung von Spendengeldern. Außerdem überzeugt sie die Menschen ehrenamtlich mit anzupacken: Für den Bau eines Cafés, eines Yoga Retreats, von Gewächshäusern und die Umsetzung weiterer Ideen. Sie ließ ein Basektballfeld anlegen und den Jakobi Ra Park. "Hier treffen wir uns zum Entspannen, Spielen, wir feiern Hochzeiten oder Festivals," erzählt sie.
Treffpunkt für die Bildung
Gemüsegärten versorgen die Nachbarschaft mit Vitaminen. Blumen prangen auf Schiffscontainern, in denen Frauen der Gegend ihre Waren anbieten, die sie selbst produziert haben. "Nicht alle können sich Ladenmieten leisten. Hier steht ihnen gratis eine reale Verkaufsplattform zur Verfügung," erklärt die Dorf-Gründerin. Besonders stolz ist sie auf die Straßenlaternen, betrieben mit Sonnenenergie: "Bis auf die Anschaffung und Wartung kostet uns die Beleuchtung keinen Cent," freut sie sich.
Herz des Ortes ist das Hausaufgabenhaus. Ein Treffpunkt mit gepflegtem Lernambiente, Nachhilfeunterricht, Wifi, einem Computerraum, einem Musikzimmer, einer Bibliothek, außerdem Duschen, einer Küche und Waschmaschinen. "Viele Kinder und Jugendliche gehen morgens ohne Frühstück los, weil daheim das Geld fehlt, Strom, Gas und Wasser abgedreht wurden. Hier steht ihnen alles zur Verfügung, um sauber und satt in die Schule zu fahren," erklärt Mama Shu. Sie möchte nicht nur optisch etwas verändern. Im Avalon Village herrscht eine Atmosphäre der Gemeinschaft und der Chance auf Bildung und Glück. "Einige Leute suchen sich einen schönen Ort zum Leben. Ich habe beschlossen einen Ort in etwas Schönes zu verwandeln," sagt sie.
"Alle verdienen ein schönes Leben"
In Highland Park geboren, wuchs die Amerikanerin im nahegelegenen Detroit auf, wo sie in der Schulverwaltung beschäftigt war. Später zog sie zurück in ihre Heimatstadt, behielt aber vorerst ihren Job. Nach einiger Zeit quittierte sie den Dienst, um ihre Tage und Nächte allein der non-profit Arbeit in ihrem Dorf zu widmen. US-amerikanische Medien feiern sie dafür, was die Spendenfreudigkeit der Menschen nochmal erhöht hat und Mama Shu kann sich vor Auszeichnungen kaum retten: "Wir alle verdienen ein schönes Leben und ein gepflegtes Umfeld. Genauso wie Menschen in anderen Nachbarschaften."
Ausgediente Industriestandorte neu zu gestalten, damit sich die Menschen dort wieder wohl fühlen: Das ist auch in Deutschland Thema. Wie beispielsweise in Gelsenkirchen. Solange in der Gemeinde Kohle abgebaut wurde, Hochöfen, Stahlwerke und entsprechende Nebenbetriebe ansässig waren, lebten fast 400.000 Menschen in der sogenannten "Stadt der tausend Feuer". Mit dem Niedergang dieser Industriezweige zogen 140.000 Menschen fort. Die Folgen gleichen jenen in Highland Park: Leer stehende Häuser verfallen, die Infrastruktur ebenfalls, die Schulen werden geschlossen. Auch die Städte Bottrop, Duisburg, Gera und viele andere ehemalige industrielle Produktionsstätten werden mit diesen Problemen konfrontiert. Stadtvertreter ringen um Lösungen und Strukturänderungen, aber rechnen eher mit einem Marathon als mit einem Mittelstreckenlauf oder gar Sprint bis zum Ziel.
Von der Schande zur Schönheit
Deshalb setzt Mama Shu auf Eigeninitiative. "Es gab eine kurze Phase, in der ich daran dachte aufzugeben. Aber man kann mit einem gebrochenen Herzen leben, solange die Seele heil bleibt." Immer wenn sie von ihrem Schmerz erzählt, wird sie kurz ernst. Dann lacht sie wieder und zitiert ihr Motto und Mantra für das Dorf: "From blight to beauty." Zu Deutsch: Von der Schande zur Schönheit. "Das funktioniert in der ganzen Welt."