GEO.de: Welche Probleme haben sich in der Pandemie verschärft? Und welche Probleme in Bezug auf Familien wurden vielleicht erst offengelegt?
Alexandra Zykunov: Das Gute ist: Die erste Welle hat sichtbar gemacht, was Mütter alles leisten. Vor allem, weil viele Mütter und Väter in Kurzarbeit gegangen sind oder im Homeoffice gearbeitet haben und Väter zwangsläufig zu Hause waren. Es gab viele Texte von männlichen Journalisten, die geschrieben haben, dass ihnen schon bewusst war, wie hart Care-Arbeit ist, sie es in der Pandemie aber erst richtig realisiert haben. Nur leider ist danach sehr wenig bis gar nichts passiert. In den Wellen danach, als viele Familien ihre gesunden Kinder in der Quarantäne bespaßen und beschulen mussten, hat es sich wieder mehr hin zur klassischen Rollenverteilung entwickelt: Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass mehr als 60 Prozent der Mütter wieder Homeschooling und die Betreuung der Kinder übernehmen. Nach zwei Jahren Pandemie kenne ich viele Mütter, die diese Doppelbelastung nicht mehr mitmachen. Doch ihren Job als Mutter können sie nicht aufgeben, also kündigen sie ihre Jobs, machen sich wieder finanziell von ihrem Partner abhängig. Es sind die Männer, die wieder die Ernährer sind. Und sie sind mit der Rolle sicher nicht glücklich: Es werden längst Zusammenhänge hergestellt wie dieser finanzielle Druck unter anderem zu extremem Stress und zu Depressionen bis hin zu Suizidgedanken führen kann. Ja, das hat die Pandemie hervorgebracht – danke also für gar nichts.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Frauen viel wütender sein müssten. Warum?
Als ich mich in die Thematik eingelesen habe, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Wut ist überhaupt keine weibliche Eigenschaft. Wer richtig wütend ist, bläht die Nasenflügel auf, die Augen starren und die Mimik verharrt – das ist per se nicht schön im klassischen Sinne und dadurch ist es irgendwie unweiblich, weil wir Frauen ja immer noch schön zu sein haben. Durch die Wut macht eine Frau zudem ihr Umfeld darauf aufmerksam, dass ihr etwas nicht passt, was für Frauen generell ungewöhnlich ist. Das heißt, wenn Frauen wütend werden, nehmen sie Raum ein, sie stellen sich hin und sagen frech: "Das gefällt mir nicht". Schnell werden sie dann als zickig dargestellt oder noch schlimmer: als hätten sie mal wieder ihre Tage. Diese Glaubenssätze finden sich heute noch in vielen Kommentarspalten auf Social Media. Und gerade deswegen müssen Frauen viel wütender werden, damit es normal wird, dass eine Frau hässlich und schnaubend und laut sein darf.
Patriarchat. Was ist das für Sie?
Ich weiß, Worte wie Patriarchat und Feminismus klingen leider sehr unsexy, man müsste sich natürlich Gedanken machen, warum sie so unsexy klingen. Und wer eigentlich einen Vorteil davon hat, dass sie weiterhin unsexy bleiben und viele daher sagen, dass sie mit den Begriffen nichts zu tun haben wollen. Also: Patriarchat ist im Grunde ein Gefüge von Hierarchien, sozialen Beziehungen, Glaubenssätzen und Handlungen, die auf der Prämisse der "Herrschaft der Väter" aufgebaut sind. Wenn wir heute vom Patriarchat sprechen, meinen wir damit, dass unser ganzes Denken und Handeln seit Jahrtausenden von Männern bestimmt, für richtig befunden, in Gesetzestexten zementiert und dokumentiert wurde. Das hat sich bis in die heutige Zeit tradiert und wurde mit Gewalt durchgesetzt. Frauen und viele andere diskriminierte Minderheiten haben da wenig zu sagen. Auch heute noch sitzen vorwiegend Männer an den Entscheidungstischen und es sind vorwiegend Männer, die Gesetze vorwiegend für die Interessen anderer Männer machen. Alles, was wir heute beobachten und beurteilen, wird immer an dem männlichen Blick orientiert. Wenn wir sagen "Das ist nicht normal", dann sagen wir eigentlich: "Das ist nicht normal von einer männlichen Blickwarte aus."
Und was bedeutet dieses System für Eltern?
In Bezug auf Elternschaft und Mutterschaft greift das Patriarchat gerade in Deutschland immer dann, wenn eine Frau Mutter wird. Wenn wir uns am Gender Pay Gap orientieren, scheint sich grundsätzlich ein Wandel vollzogen zu haben, wenn junge Frauen und Männer in die Berufe strömen, hat sich dort der Gender Pay Gap ein Stück weit verringert. Doch sobald ein Kind im Raum steht, geht die Gehaltsschere zwischen Mutter und Vater auf und sie schließt sich so gut wie nie: Frauen in Deutschland verdienen zehn Jahre nach der Geburt ihres Kindes im Schnitt 61 Prozent weniger als ein Jahr vor der Geburt. Wenn ein heterosexuelles Paar im Jahr 2022 in einen Kreißsaal hineingeht, kommt es mit dem Baby auf dem Arm in der patriarchalen Hölle im Jahr 1960 wieder heraus. Heißt: Das patriarchale Denken, von dem wir meinen, dass es nicht mehr existiert, ist noch ganz subtil und tief in uns verankert. Die Folge: Die Mutter geht 12 Monate in Elternzeit und der Vater überhaupt nicht – das trifft auf 58 Prozent der Väter zu. Die 42 Prozent der Väter, die in Elternzeit gehen, nehmen in der Regel zwei Monate Elternzeit und nur 7,6 Prozent mehr als zehn Monate. Bei den Frauen sind es 95,4 Prozent, die zehn Monate und mehr in Elternzeit gehen. Die meisten Paare werden sagen, dass sie sich das freiwillig so ausgesucht haben. Ich stelle dann immer die Frage, wie freiwillig kann denn eine Entscheidung sein, wenn dein ganzes Umfeld, all deine Tanten, deine Mutter, deine Großmutter, deine Freundinnen, die anderen Kita-Mütter genau dieses klassische Modell wählen?
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass die Ungleichheiten schon mit ganz kleinen Sätzen anfangen und zerlegen diese "Bullshitsätze". Einer davon dreht sich um Männer, die so großartig im Haushalt und/oder bei der Kinderbetreuung helfen. Warum ist dieser positiv klingende Satz so schlimm? Und warum müssen wir jedes Wort auf die Goldwaage legen?
Das Wort, welches wir auf die Goldwaage legen sollten, ist der Begriff helfen. Der Satz "Dein Mann hilft doch schon so viel im Haushalt und bei den Kindern" suggeriert, dass wir noch ganz weit davon entfernt sind, dass der Mann seinen Teil der Verantwortung übernimmt, also die Hälfte der Care-Arbeit und der Kindererziehung. Wenn wir davon sprechen, dass Männer so viel helfen, feiern wir wieder einen minikleinen Schritt und sind dabei noch weit vom Ziel entfernt. Das Wort helfen bedeutet, dass er für Kinder und Haushalt nicht verantwortlich ist. Die Hauptlast ist bei der Person, der geholfen wird, der Person, die die Verantwortung trägt. Würden wir immer davon sprechen, dass der Mann seinen Beitrag leisten muss, würden ganz viele Frauen sagen: Ihr Mann leistet noch nicht seinen Beitrag, sondern hilft nur. Würden wir nur bei den Männern sagen, dass sie ihren Beitrag leisten, die es wirklich tun und nicht nur mal zum Helfen reinschneien, würden wir Letztere kritisch beleuchten, statt sie dafür blind abzufeiern.
Mein Partner und ich streiten uns häufiger darüber, dass er in der Küche die Schränke nicht immer mitputzt oder das Abtropfgitter fürs Geschirr nicht mitsäubert und ich es dann machen muss. Er sagt dann zu mir: "Dass ich es einfach lassen sollte, dann würde er es schon machen." Was ist daran problematisch?
Das wird dann problematisch, wenn die berühmte Schwiegermutter spontan vorbeischneit oder Freunde zu Besuch kommen und Ihr Freund zwar gesagt hat, dass er sich darum kümmert, er es aber nicht "korrekt" gemacht hat. Und das meine ich nicht im Sinne von unterschiedlichen Sauberkeitsstandards. Denn: Wir haben alle ungefähr ein durchschnittliches Verständnis von Sauberkeit, sind die Schränke in der Küche noch dreckig, liegen noch Krümel rum oder ist der Badezimmerboden nicht richtig gewischt, – seien wir mal ehrlich –, werden Besucher*innen es nicht ihm negativ auslegen, sondern Ihnen als Frau. Der Grund: Wir alle sind patriarchal sozialisiert, und die Frau ist in unserem Kopf nun mal für den Haushalt zuständig. Stehen dann auch noch Kinder im Raum, wird es noch schlimmer. Zum Beispiel bei der "falsch" gepackten Strandtasche: Habe ich die Sonnencreme, den Sonnenhut und ein bestimmtes Spielzeug vergessen und das Kind fängt an rumzubrüllen, weil es unbedingt Spielzeug A will, aber nur Spielzeug B dabei ist, dann gucken die Leute mich als Mutter an, weil ich dafür verantwortlich gemacht werde. Nicht den Vater, weil er nach dem patriarchalen Denken dafür zuständig ist, das Geld zu verdienen. Das ist das Problem, es ist viel einfacher für den Mann zu sagen, dass die Frau ihre Sauberkeitsstandards und Ansprüche herunterschrauben soll, weil er nicht daran gemessen wird –die Frau schon.
Diese kleinen Denkaufgaben – die Strandtasche packen, ans Geburtstagsgeschenk für die Schwiegermutter denken oder zu wissen, wann die nächste U-Untersuchung ist – fallen unter das Stichwort "Mental Load". Wie kommt es, dass meist Frauen diese Last tragen?
Es ist eine Last und eine Verantwortlichkeit, die den Frauen zugeordnet wird, im Grunde seit die Menschheit sesshaft geworden ist, also so vor 5.000 bis 10.000 Jahren. Mit der Sesshaftigkeit entstanden Häuser, Dörfer und Städte, Besitztümer gewannen an Wert, Geld wurde erfunden und Geld bedeutete macht und das Patriarchat setzte ein. Männer wurden sehr schnell die Ernährer, die Mächtigen, die in Städten entschieden und sich verbrüderten. Frauen verschwanden in den privaten Bereich, kümmerten sich um Haus und Kinder. Ihre Arbeit war unsichtbar. Seit Jahrtausenden wird alles, was mit Kindern und Haushalt und alles, was mental damit zusammenhängt, den Frauen zugeschrieben. Da ist es kein Wunder, dass sich auch heute die Frauen zu 86 Prozent für den Mental Load zuständig fühlen und Männer nicht. Es ist wirklich die Sozialisation und unsere Geschichte. Es sind eben nicht die Männer, die zu dumm zum Wickeln sind und Frauen nicht die Kontrollfreaks, die nicht abgeben wollen. Das meine ich, wenn ich ironisch sage: "Wir sind doch alle längst gleichberechtigt." Diese Strukturen sind ganz tief in uns verankert und es sind Verhaltensweisen, die wir seit Tausenden von Jahren erlernt haben, die lassen sich nicht plötzlich ablegen, nur weil wir 2022 haben. Wir müssen uns dessen bewusst werden und aktiv dagegen ankämpfen.
Sie haben mit Ihrem Mann einen Deal. Alle sechs bis acht Wochen fahren Sie oder Ihr Mann mit den Kindern zu den jeweiligen Eltern. Und Sie oder Ihr Mann haben das Wochenende frei. Warum ist so ein Deal 2022 immer noch eine Revolution?
Ich habe mich das genauso gefragt, weil ich dafür so abgefeiert wurde. Als ich dann mehr darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass es 2022 anscheinend wirklich noch eine Revolution ist, wenn eine Frau alle sechs bis acht Wochen ein Wochenende ohne ihren Mann und ihre Kinder verbringen möchte. Da poppen in unseren Köpfen automatisch Fragen auf: "Vermisst sie ihre Kinder denn gar nicht? Und kommt der Vater überhaupt alleine mit den Kindern klar?" Wenn diese Fragen aufpoppen, müssten wir sie eigentlich greifen und darauf einschlagen. Warum fragen wir uns nicht, wenn der Vater auf Dienstreise ist, ob er denn seine Kinder nicht vermisst oder warum fragen wir uns nicht ganz erschrocken, ob die Mutter mit den beiden Kindern alleine ohne Vater klarkommt? Weil wir wissen, dass diese Fragen absurd sind. Aber warum sind sie bei einer Mutter nicht absurd, wenn sie mal ein Wochenende wegfährt? Wir messen hier mit zweierlei Maß.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Mir ist es wichtig, hier nicht schon wieder die Schuld und die Verantwortung für diese Strukturen bei den Frauen selbst zu suchen oder ihnen zu sagen, dass sie nur X, Y, Z machen müssten und schon ist die Gleichberechtigung da. Mir geht es um ein Wachrütteln: Frauen müssen sich Gedanken darüber machen, dass die Entscheidungen, die sie und ihr Partner (wenn einer vorhanden ist) zu Elternzeit und Teilzeit getroffen haben, womöglich nicht ihre freiwillig getroffenen Entscheidungen waren, sondern sie da reingedrängt wurden – ob sie wollten oder nicht. Frauen, die in privilegierten Situationen sind mit Partnerschaften auf Augenhöhe, die es sich leisten können, sich zu streiten, in Gespräche zu gehen, sollten das mit ihrem Partner tun. Auf individueller Ebene müssen diese privilegierten Paare vorangehen und zeigen, dass wir noch nicht gleichberechtigt sind und neue Wege erstreiten.
Viel wichtiger sind aber die Hebel auf politischer Ebene, denn das System muss sich ändern. Zum Beispiel, dass im deutschen Antidiskriminierungsgesetz Elternschaft als Diskriminierungsmerkmal auftauchen müsste. Dadurch erst könnten Mütter überhaupt Klage einreichen, die im Job wegen ihrer Mutterschaft diskriminiert werden – das wäre schon ein riesiger Riegel. Gesetzesgeber müssten sich fortan immer an den Alleinerziehenden orientieren. Denn sie sind als Familienform besonders schützenswert. Und das Ehegattensplitting müsste abgeschafft werden, weil es das Ein-Ernährer-Modell bevorteilt und Ungleichheiten zwischen Mann und Frau zementiert. Da Vollzeitarbeit und Care-Arbeit nebeneinander nicht funktionieren, müssten Modelle her, die entweder Care-Arbeit monetarisieren oder Teilzeitarbeit für Eltern und Pflegende bei einem Vollzeitgehalt möglich machen. Es kann nicht sein, dass Erwerbsarbeit so sehr unser Leben bestimmt, aber Care-Arbeit weiterhin komplett unsichtbar bleibt.