Als Sol Neelman zum x-ten Mal auf der Ersatzbank Platz nehmen sollte, verfluchte er sein Gardemaß von 1,92 Metern. Der heute 52-Jährige sitzt in seinem Büro im Nordwesten der USA und berichtet, dass in seinen Highschooljahren die Lehrer ganz selbstverständlich annahmen, dass so ein langer Kerl Basketball spielen können müsste. „Jahre habe ich auf Ersatzbänken verbracht, während alle um mich herum darauf hofften, dass ich irgendwann mit dem Ball würde umgehen können. Sie haben umsonst gewartet.“ Einen Breitensport betrieb Neelman in der Folge nie. Aber als Fotograf spezialisierte er sich auf Leibesübungen aller Art, war bei Olympischen Spielen und auf vielen anderen Wettkampfstätten des klassischen Sports dabei. Sein Herz gehörte allerdings immer jenen Mädchen und Jungen, die durch die Raster des leistungsorientierten Sports gefallen waren, die Ersatzbänke drückten, die im Sportunterricht immer als Letzte gewählt wurden, als gäbe es ein entsprechendes Naturgesetz.
Sol Neelman fotografiert Menschen, die seltsame Sportarten machen
Im Jahr 2005 begann Sol Neelman dann ein Projekt, das er „Weird Sports“ nannte. Er fotografierte, wann immer Zeit war, sonderbare, verschrobene Sportarten, insgesamt mehr als 250 verschiedene. Und als Erstes ging er zum Roller Derby, einem Sport, dessen Körperlichkeit durchaus furchteinflößend ist: ein Bahnrennen auf Rollschuhen, meist von Frauen betrieben. Bei dem sich die Kombattantinnen allerdings mit Hüften und Oberkörper blocken und aus der Bahn treiben dürfen. Für nahezu jede ihrer Aktionen würde ein Fußballer, eine Fußballerin umstandslos des Platzes verwiesen.
Womit wir bei mir wären. Ich wurde, sportlich betrachtet, anders sozialisiert als Neelman: Heute 56 Jahre alt, habe ich bestimmt zwei Drittel meines Lebens in Vereinen Fußball gespielt. Niemals hochklassig, wo denken Sie hin, höchstens mal Bezirksliga. Mein letzter Klub wird in Hamburg wohl der SC Nienstedten von 1907 sein. Dort spiele ich seit fast 20 Jahren, derzeit in der Klasse der Super-Senioren (also Männer über 50), wir sagen dazu „Sterbeliga“.
Ich liebe organisierten Sport, ich könnte nicht ohne das Spiel, meine Kameraden auf dem Platz sind nicht Kumpels, sondern Freunde. Im Fernsehen interessieren mich aber auch viele, viele andere Sportarten, Olympische Spiele gucke ich lieber als eine Fußballweltmeisterschaft. Soll heißen: Meine Sportwelt umfasst mehr als Fußball. Soll ebenfalls bedeuten: Ich müsste das ideale Zielpublikum für Sol Neelmans Bilder sein. Und doch erschrecke ich zunächst. Auf die Gefahr, verstockt zu klingen: Superman-Kostüme im Sport finde ich mindestens gewöhnungsbedürftig. Auch die Faszination von Yoga mit Ziegen erschließt sich mir nicht sofort, und dass es für Prügeleien mit Papprollen („Cardboard Tube Fighting“) organisierte Ligen in Australien, Großbritannien und den USA erstaunt mich sehr. Kurz: Ich fremdele erst mal.
Sportstunden sind Horror, aber Roller Derby macht Spaß
Neelman aber berichtet sofort von Brandy Rettig, der allerersten Alternativsportlerin, die er fotografierte, eben beim Roller Derby. Sie erzählte ihm, wie sie als junges Mädchen, asthmatisch und ungeschickt, Sportstunden als Horrorveranstaltungen begriff. Und wie sie erst beim Roller Derby Spaß und Freude und Gemeinschaft im Sport fand. Und in der Tat: Die meisten der durchgedrehten Sportarten werden im Team betrieben. Was, so sehe ich das auch, die beste Art der Leibesübung ist. Dann nämlich bringt Sport Menschen zusammen, auf ganz besondere Weise: Im Jubel über ein Tor berühren sich Männer so intensiv und unverhohlen wie sonst nie in der Öffentlichkeit. Und wenn Frauen vor Hockey-, Fußball-, Handball-Matches gemeinsam ihren Kampfschrei ausstoßen, sind Männer über diesen ungewohnten Ausbruch aggressiver Energie fast erschrocken. „Alle für eine!“ – dieser martialische Spruch hat aber auch etwas sehr Tröstliches. Brandy war in ihrer Frauschaft jedenfalls, so erzählt es Sol, „eine echt robuste Sportlerin. Und durfte gleichzeitig so introvertiert sein, wie sie eben ist.“
Diese Erfahrungen machen alle Sportlerinnen und Sportler: Ob sie altväterlich einem Ball hinterherrennen oder ob sie wie beim von Neelman fotografierten „Whirlyball“ eine Art Korbball spielen – während sie gleichzeitig Autoscooter fahren. Was allerdings die schrägen von den klassischen Sportarten unterscheidet: Wer sie betreibt, ist meistens geradezu lustvoll darauf aus, Sport mit großem Quatsch zu verbinden. Beim „Donkey Basketball“ beispielsweise laufen verwirrte Esel durch eine Sporthalle, während ihre Reiter versuchen, einen Ball in einem 3,05 Meter hoch hängenden Korb zu versenken. Und wer auf Neelmans Bildern sieht, wie erwachsene Menschen auf Plastikdreirädern die steilen Straßen San Franciscos herunterbrettern, angetan mit Kostümierungen aller Art, versteht, warum gerade Kinder die größten Fans des Fotografen aus Portland, Oregon, sind. „Die Erwachsenen auf diesen Bildern“, erzählt Neelman, „versuchen, das Kind in sich wiederzufinden. Das müssen die Kinder natürlich nicht. Aber es amüsiert sie sehr, wenn die Großen auch mal kindisch sind.“
Warum einen Boxkampf nicht interessanter machen – mit Schach?
Grenzen werden hier konstant überschritten: Warum einen Boxkampf nicht interessanter machen, indem man ihn nach einer Runde Hauen durch eine Runde Schnellschach unterbricht – wie es beim Schachboxen geschieht? Und warum Hockey auf dem Rasen spielen, wenn man den Sport auch unter Wasser betreiben kann, was dem Ganzen eine wirklich neue Dimension verleiht? Und spricht etwas dagegen, aus dem Kindergeburtstagsspiel „Reise nach Jerusalem“ (auf Englisch: „Musical Chairs“) einen veritablen Wettkampfsport zu machen?
Allerdings: In vielen dieser Sportarten ist der Sieg nicht wichtig, wenn nicht gar verpönt. Auch Sol Neelman findet, dass der Zweiklang von Gewinnen und Verlieren vieles Schöne im Sport übertöne. In meiner kleinen Fußballwelt spiegelt sich diese These nicht: Zwar spielen wir alten Kerle mit dem Etikett „lustbetont“, an das allerdings angehängt ist: „aber nicht leistungsfeindlich.“ Wer bei uns das Trainingsspiel verliert, trinkt das erste Bier danach deutlich, sagen wir, verhaltener. Und als wir mal in einer Saison 13 (!) Spiele hintereinander verloren, waren wir kurz davor, das Biertrinken ganz dranzugeben. Aber wenn wir gewinnen, dann rekapitulieren wir jeden einzelnen Zweikampf, jeden Angriff, jedes Tor. Noch viele Jahre später reden wir über große Siege und wälzen uns wohlig in Erinnerungen.
Bei einer Reihe von Sportarten, die Neelman in seinen Bildern zeigt, sind Triumph oder Niederlage aber eben nicht entscheidend. Als er einmal in Wales ein komplettes Festival abgedrehter Leibesübungen fotografierte, gab es auch einen Wettbewerb im Sumpflaufen (eigentlich sollte es Sumpfschnorcheln werden, aber der Matsch war dann doch zu dickflüssig). Es gewann ein Engländer, den alle mochten, gerade weil ihm der Sieg so herzlich egal war. Sein Hauptgegner war der vielfache Weltmeister im „Frauentragen“ (ja, es ist genau das, was Sie sich vorstellen), ein ans Gewinnen gewöhnter Kerl, der seine Niederlage laut betrauerte und sich damit, so Neelman, „zum Gespött der ganzen Veranstaltung machte.“
"Es macht jeden Sport schöner, wenn er Generationen verbindet"
Beim Sinn oder Unsinn von Sieg und Niederlage kommen Neelman und ich auf keinen gemeinsamen Nenner. Einig sind wir uns aber, dass für einige der gezeigten Sportarten das Attribut weird fast respektlos ist, weil sie so eine lange Tradition haben: Öl-Ringen zum Beispiel gilt als Nationalsport der Türkei und wird dort seit 1361 (!) von fettglänzenden Männern praktiziert. Oder eine halsbrecherische Bergabfahrt auf Baumstämmen, betrieben in Japan, seit etwa 1200 Jahren.
Oder Neelmans Lieblingsverrücktheit: In seinem Heimatstaat Oregon veranstalten Farmer regelmäßig Rennen in uralten Ford-Modellen, allerdings tragen sie dabei ein zappelndes, quiekendes Ferkel im Arm, was die Fahrt erheblich wilder macht. Es gibt diese Rennen seit fast 100 Jahren, Großväter unterweisen ihre Enkel in dieser Kunst. Klar: Es macht jeden Sport schöner, wenn er Generationen verbindet. Beim Fußball gilt das nur bedingt: Gegen meine Söhne (15 und 23 Jahre alt) spiele ich schon seit Jahren keinen Fußball mehr – ich bin da nur noch Slalomstange.
Was bleibt nach drei Bildbänden: Auch ein konservativer Fußballer begreift nun, dass es jenseits der vom Profi- und Leistungssport servierten Massenkost viele exotische Schmankerl gibt – und dass man sie vielleicht probieren sollte. Jedenfalls hatte ich mir fest vorgenommen, Sol Neelman eine sonderbare Sportart zu servieren, von der er vielleicht noch nicht gehört hatte. Ich habe sie schon als Jugendlicher bewundert, in einer merkwürdig unschuldigen Zeit, als in der Fernseh-Sportschau noch nicht fast ausschließlich Fußball gezeigt wurde. Sondern regelmäßig auch Ringen. Feldhockey. Tischtennis. Galopprennen. Und eben: Radball. Ein über 100 Jahre alter Sport, bei dem meist Zweierteams in einer Halle „Fußball“ spielen, sie schießen mit den Rädern ihrer Fahrräder. Höchst traditionell, aber auch maximal verschroben.
Sol Neelman bedankte sich für den Tipp. Und natürlich kennt er Radball. Hat er auch schon fotografiert, im Jahr 2019, in Bern, die Aufnahmen haben es dann nur nicht in die Bücher geschafft. „War aber eindrucksvoll“, sagt er, „wirklich schön“.
Fotograf Sol Neelman veröffentlichte bislang drei Bildbände zum Thema: „Weird Sports“, „Weird Sports 2“ und „More Weird Sports“; sie sind erschienen beim Kehrer Verlag und kosten jeweils 29,90 Euro.