Spinnen mögen auf uns Menschen bedrohlich wirken. Tatsächlich müssen sich die meisten von ihnen selbst vor bedrohlichen Feinden in Acht nehmen. Etwa vor Vögeln oder Reptilien. Während einige Arten nachts jagen, um nicht gesehen zu werden, oder sich in Höhlen verstecken, haben zwei tropische Spinnenarten eine ganz eigene Überlebensstrategie entwickelt: Sie bauen aus den Überresten verzehrter Insekten, Pflanzenteilen und Spinnenseide überlebensgroße Attrappen.
"Sie arrangieren Detritus, Beutekadaver und Seide akribisch zu einer Struktur, die nicht nur größer ist als ihr eigener Körper, sondern auch deutlich der Silhouette einer größeren, bedrohlichen Spinne ähnelt", sagt Dr. George Olah von der Australian National University (ANU) in einer Pressemitteilung. Zwar gab es schon vor zehn Jahren vereinzelte Berichte und Beobachtungen dieses Verhaltens, doch die aktuelle, im Fachmagazin "Ecology and Evolution" publizierte Studie ist die erste wissenschaftliche Publikation zu dem faszinierenden Phänomen.
Die beiden Spinnen der Gattung Cyclosa – eine Art stammt aus dem Regenwald der Philippinen, die andere aus Peru – weben ihre Netze ähnlich wie beispielsweise unsere heimischen Kreuzspinnen in Form eines Rades. Aber anders als Kreuzspinnen verstecken sie sich bei Gefahr nicht außerhalb des Netzes in einem Unterschlupf. Stattdessen vertrauen die Tropenspinnen auf die Wirkung ihres überlebensgroßen Doubles.
Das erfüllt den Forschenden zufolge einen doppelten Zweck: Potenzielle Fressfeinde wie Vögel oder Eidechsen könnten durch das Vortäuschen einer großen, möglicherweise wehrhaften Spinne von einem Angriff abgehalten werden. Gleichzeitig lenkt die trügerische Silhouette die Aufmerksamkeit der Jäger von der kleinen, wehrlosen Spinne ab.
Ein optisches Täuschungsmanöver als "Versteck"
"Dieses Verhalten ist nicht nur eine skurrile biologische Beobachtung", sagt der Co-Autor der Studie, Dr. Lawrence Reeves von der University of Florida. "Es veranschaulicht einen grundlegenden evolutionären Kompromiss in der Welt der Spinnen": Statt Zeit und Energie auf den Bau eines physischen Rückzugsorts zu verwenden, vertrauen die beiden Cyclosa-Arten offenbar auf die Wirkung der optischen Täuschung.
Weitere Beobachtungen müssten nun zeigen, so die Autoren, inwiefern die Attrappe ihren Zweck wirklich erfüllt. Ob also in ihrer Anwesenheit mehr Spinnen von hungrigen Prädatoren verschont bleiben. Und wie groß der künstliche Doppelgänger sein muss, um besonders wirksam zu sein.
Auch die Frage, warum ausgerechnet diese beiden Cyclosa-Arten (es gibt insgesamt 180 Spezies innerhalb der Gattung) eine so ausgefallene Strategie entwickelt haben, ist noch ungeklärt. "Es könnte sein, dass eine besonders starke Selektion innerhalb dieser beiden Gruppen dazu geführt hat, dass sie eine immer komplexere visuelle Abwehr entwickelt haben", glaubt Olah.
Möglicherweise haben also diese beiden Arten besonders aufdringliche Feinde, die sich durch optische Tricks effektiv ablenken lassen.