Höchstwahrscheinlich waren es Mönche aus einem der ersten christlichen Klöster, die akribisch Schriftzeichen um Schriftzeichen auf die dicken Pergamentblätter zeichneten. Vermutlich dauerte es 40 Jahre, bis das gesamte Buch, 52 doppelt beschriebene Seiten, fertig war. Sicher ist: Was irgendwann zwischen 250 und 350 n. Chr. in Oberägypten niedergeschrieben wurde, gilt heute als eines der ältesten Bücher der Welt – und als das älteste in Privatbesitz. Nun soll der Crosby-Schøyen-Kodex versteigert werden.
Entdeckt wurde das Manuskript 1952, am Fuß der Steilwand Jabal Abu Manna im heutigen Ägypten. Dort hatte es, geschützt in einem verschlossenen Gefäß, die Jahrhunderte überdauert. Über verschiedene Privatbesitzer – unter ihnen war auch Margaret Reed Crosby, die dem Kodex einen Teil seines Namens verlieh – landeten die Schriftstücke 1955 in der Sammlung der Mississippi-Universität. Von dort aus wanderten sie, erneut über gut betuchte Privatsammler, im Sommer 1988 zu ihrem zweiten Namensgeber: dem norwegischen Sammler Martin Schøyen.
"Ein einzigartiges Objekt in der Geschichte der Informationstechnologie"
Dieser lässt den Crosby-Schøyen-Kodex nun bei Christie's versteigern. Zwischen 2,6 und 3,8 Millionen US-Dollar könnte das einbringen, schätzen die Expert*innen des traditionsreichen Londoner Auktionshauses. Einen solchen Preis können die meisten öffentlichen Institute und Museen nicht berappen. Der Kodex bleibt wohl in Privatbesitz.
"Es gibt Hinweise darauf, dass es schon früher Kodizes gab, aber keiner ist erhalten geblieben", sagt Eugenio Donadoni, Spezialist bei Christie's für altertümliche Schriften. "Das macht den Crosby-Schøyen-Kodex zu einem einzigartigen Objekt in der Geschichte des Christentums und der Informationstechnologie." Die meisten bis heute erhaltenen Schriftstücke jener Zeit sind aufgerollte Papyrusrollen. Die rechteckigen Blätter des Crosby-Schøyen-Kodexes hingegen sind beidseitig beschriftet und waren einst zusammengenäht: zu einem frühen Prototyp des Buches. Heute wird jede Einzelseite zwischen zwei Glasscheiben aufbewahrt.
Der Kodex gewährt Einblicke in das frühe Christentum
Doch nicht nur die Form, auch der Inhalt ist besonders. So erzählen die koptischen Schriftzeichen von der verzweifelten Flucht eines Mannes vor seinem allmächtigen Gott. Die Geschichte endet, als seine Wegbegleiter ihn von Bord eines Bootes werfen, und wird heute als das erste Buch Jona bezeichnet. Die christlichen Mönche übertrugen es, davon gehen Forschende aus, von griechischen Quellen in Sahidic, einen koptischen Dialekt. Die Abschrift ist die älteste erhaltene Fassung des ersten Buchs Jona. Das gilt auch für den zweiten großen Bestanteil des Crosby-Schøyen-Kodex: den ersten Brief des Petrus.
"Wir können den Kodex als das älteste christliche liturgische Buch bezeichnen", wird Donadoni in einer Pressemitteilung von Christie's zitiert. Es sei das früheste Beispiel für eine Zusammenstellung von Texten speziell für eine religiöse Feier. Noch heute spielen das erste Buch Jona und der Brief des Petrus im Ostergottesdienst eine Rolle.
Vor allem jedoch gewährt der Kodex einen seltenen Einblick in die frühe Geschichte des Christentums. Er erzählt von der Ausbreitung des neuen Glaubens innerhalb weniger Generationen, nachdem das letzte Evangelium geschrieben wurde.
Die 52 Seiten werden vom 6. bis 10. Juni bei Christie's ausgestellt. Am 11. Juni folgt die Versteigerung – gemeinsam mit weiteren Schriftstücken aus der Martin-Schøyens-Sammlung.