Ritual zum Jahreswechsel "Times Square Ball": Vom Zeitsignal zum Silvesterspektakel

  • von Rebecca Wegmann
Ein Mann schaut vor einem großen Leuchtball auf eine Uhr
Russ Brown ist 16 Jahre dafür verantwortlich, dass die "Times Square Kugel" zum richtigen Zeitpunkt herunterfällt. Wenige Minuten vor Mitternacht am 31. Dezember 1980 schaut er auf seine Uhr. Der Jahreswechsel von 1980 auf 1981 ist Browns letzter Dienst: Wenn der Ball gefallen ist, geht er in den Ruhestand
© David Handschuh / Associated Press / picture alliance
Seit 1907 markiert der fallende "Times Square Ball" den Jahreswechsel in den USA. Ursprünglich eine Erfindung aus der Seefahrt, begeistert dieses Ritual bis heute Millionen weltweit

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts begrüßen die New Yorker das neue Jahr mit Glockengeläut: Tausende Einwohner und Besucher der US-Metropole versammeln sich in den finalen Stunden am letzten Tag des Jahres an der Trinity Church in Lower Manhattan. Um Mitternacht ertönen die Glocken der Kirche.

Ab 1905 veranstaltet Adolph Ochs, der Verleger der "New York Times", zu Silvester eine große Feier vor dem damals neuen Verlagsgebäude, dem Times-Tower. 1904 war die Zeitung in den Wolkenkratzer an der Kreuzung Broadway und Seventh Avenue gezogen, später wird der Platz daher "Times Square" genannt.

Zunächst feiert Ochs den Jahreswechsel mit einem großen Feuerwerk vor dem Hauptsitz der Zeitung, doch 1907 verbietet New York das Böllern in der Stadt. Um trotzdem ein Spektakel zu liefern, das seine Zeitung bewirbt, wird Ochs kreativ: Er beauftragt den Metallarbeiter Jacob Starr, eine Kugel aus Eisen und Holz zu fertigen. Der erste "Times Square Ball" hat einen Durchmesser von 1,5 Metern und wiegt mehr als 300 Kilogramm. Rund 100 Glühbirnen erleuchten die Kugel. Am Abend des 31. Dezember hieven sechs Männer mit einem Seil den schweren Ball auf das 120 Meter hohe Gebäude. Auf dem Dach befestigen sie die Kugel an einem Fahnenmast. 

Am 31. Dezember 1938 versammeln sich Menschen am Times Square in New York
Am 31. Dezember 1938 versammeln sich Menschen am Times Square in New York. Bis heute finden an dieser Kreuzung Silvesterfeiern statt
© American Stock / akg-images

An jenem Silvesterabend haben sich rund 200.000 Menschen für die von Ochs angekündigte Schau vor dem Hauptsitz der "New York Times" versammelt. Kurz vor Mitternacht beginnt die Kugel langsam am Mast herabzugleiten, um das Jahr 1908 einzuläuten. "Hurra 1908", jubelt die Menge, als der Ball dann schließlich am Fuß des Mastes ankommt. Es ist der Beginn einer Tradition, die seitdem mehr als ein Jahrhundert überdauert. Was die Wenigsten wissen: Die Idee für seine Lichtkugel hatte sich Ochs aus der Seefahrt abgeschaut.

Ein Ball, um die Zeit zu messen

Die Frage "Wie viel Uhr ist es?" hat im 18. Jahrhundert in der Seefahrt eine überragende Bedeutung. Denn die exakte Uhrzeit ist auf See zu dieser Zeit äußerst wichtig für die Längenbestimmung. Kapitäne und Steuerleute nutzen dafür möglichst genau gehende Chronometer, denn schon wenige Sekunden Abweichung bedeuten mehrere Seemeilen Positionsfehler. Um ihren Kurs sicher zu bestimmen, kalibrieren die Kapitäne diese Zeitmesser im Hafen. Doch dort fehlt ein gemeinsames, optisch klar erkennbares Zeitsignal; jedes Schiff hat praktisch "seine eigene Zeit". Ist die Angabe aber ungenau, nehmen die Schiffe navigatorische Ungenauigkeiten mit auf die Reise. 

Anfang des 19. Jahrhunderts sucht Robert Wauchope, ein britischer Admiral der Royal Navy, einen Weg, ein einheitliches Signal, das die genaue Zeit an Schiffe meldet und so die Chronometer an Bord kalibriert werden können. Wauchope experimentiert erst mit Flaggen, später mit Metallkugeln. So erfindet der Brite den Zeitball: Eine große, hohle Kugel, die gut sichtbar an einem Mast hochgezogen und zu einem exakt definierten Zeitpunkt fallen gelassen wird, um ein optisches Zeitsignal an die Schiffe zu senden.

1829 hängt die erste Zeitkugel auf dem Dach des Royal Naval Observatory in der südenglischen Hafenstadt Portsmouth. Wenige Jahre später erhält auch die Königliche Sternenwarte in Greenwich einen Zeitball. Bis heute steigt die rote Kugel um 12:55 Uhr zur Hälfte auf dem Mast, um 12:58 Uhr ganz nach oben auf dessen Spitze und fällt dann punktgenau um 13:00 Uhr, was jeden Tag Besuchende begeistert.

Der rote Zeitball auf dem Royal Observatory in Greenwich im Südosten Londons wurde 1833 installiert, um Schiffen auf der Themse und Menschen in London die exakte Zeit zu signalisieren. Bis heute steigt die Kugel um 12:55 Uhr zur Hälfte, um 12:58 Uhr ganz an die Spitze und fällt Punkt 13:00 Uhr herunter     
Der rote Zeitball auf dem Royal Observatory in Greenwich im Südosten Londons wurde 1833 installiert, um Schiffen auf der Themse und Menschen in London die exakte Zeit zu signalisieren. Bis heute steigt die Kugel um 12:55 Uhr zur Hälfte, um 12:58 Uhr ganz an die Spitze und fällt Punkt 13:00 Uhr herunter

 
© Ian Dagnall / Alamy Stock Photo

Nach und nach werden Zeitkugeln in Häfen um die ganze Welt eingesetzt: vom Kap der Guten Hoffnung über Jakarta bis Mauritius und Neuseeland. Die erste Zeitkugel in Deutschland wird 1875 in Cuxhaven errichtet. Es folgen Bälle in Wilhelmshaven, Bremerhaven, Bremen, Emden, Hamburg, Kiel oder auch Stettin, Swinemünde und Danzigs Hafen Neufahrwasser.

Die erste Zeitkugel in den USA wird 1845 in Washington, D.C. am damaligen United States Naval Observatory in Betrieb genommen. Ab 1877 thront ein derartiger Ball auch auf dem Dach des Western Union Buildings in New York City. Er wird kurz vor Mittag hochgezogen und exakt um 12 Uhr per Telegrafensignal von Washington ausgelöst. 

Signal für das neue Jahr

Vermutlich dient diese Zeitkugel auf dem Western Union Building dem Unternehmer Ochs als Vorbild, als er zum Jahreswechsel von 1907 auf 1908 seine erste Lichtkugel fallen ließ. Seitdem findet der "Ball Drop" am Times Square beinahe jedes Jahr an Silvester statt. Nur während des Zweiten Weltkrieges ist übermäßiges Licht verboten, deshalb fällt die Kugel 1942 und 1943 nicht. Erst zum Jahreswechsel 1944 auf 1945 können die New Yorker zu Silvester wieder die Kugel aus Licht bewundern. Über die Jahrzehnte werden Material, Gewicht, Beleuchtung und Optik immer wieder modernisiert; von einer einfachen Holz-Eisen-Kugel mit Glühbirnen zur heutigen LED-Kristallkugel mit digitaler Show. In den 1980er-Jahren wird die Kugel zu einem roten "Big Apple Ball" mit roten Lampen und grünem "Stiel" für die "I Love New York"-Kampagne. Mittlerweile hat sie einen Durchmesser von über drei Metern und wiegt mehr als fünf Tonnen, mehr als 32.000 LEDs erleuchten sie auf der Spitze One Times Square-Gebäudes, wo sie seit 2009 ganzjährig montiert ist. 

Jedes Jahr an Silvester drängen sich wieder Hunderttausende von Menschen auf dem Platz vor dem Gebäude, um zu beobachten, wie der Ball am Times Square langsam an einem Mast herab sinkt und damit das neue Jahr einläutet. Traditionell wird die glitzernde Inszenierung auch im Fernsehen übertragen. Der "Times Square Ball Drop" ist jenes Zeichen, an dem sich Millionen von Amerikanern orientieren: Wenn der Ball fällt, beginnt ein neues Jahr. 

Von den mehr als 150 Zeitkugeln weltweit, die über mehr als ein Jahrhundert lang den Seefahrern die genaue Uhrzeit signalisieren, sind heute nur noch wenige übrig. Mit dem Aufkommen des Radios Anfang der 1920er-Jahre werde die Zeitkugeln allmählich obsolet, viele werden abgerissen. In Deutschland gibt es heute keine originale Zeitkugel mehr.