Die Liste der Vorwürfe ist lang: Bandenbildung, Verschwörung gegen den König, Überfälle auf mehrere Fischerboote und Handelsschiffe, Raub von Waren und Ausrüstung, Bedrohung von Besatzungsmitgliedern für Leib und Leben. Das ist nichts anderes als Piraterie – und darauf kennt das Gericht, das am 29. November 1720 in der jamaikanischen Stadt Spanish Town über zwei Angeklagte urteilen soll, nur eine Antwort: Tod durch den Strick.
Die Namen der Beschuldigten: Anne Bonny und Mary Read. Nicht etwa männliche Seeräuber brachen Schiffe auf, kaperten und verbreiteten Angst und Schrecken, sondern Piratinnen.
Als "Piratinnen der Karibik" gehen die Frauen in die Geschichte ein. Mehr noch: Sie werden zum Mythos. Bücher, Comics, Filme, Zeichentrickserien und Theaterstücke verklären sie heute wahlweise als "Piraten-Königinnen", lesbisches Liebespaar, genderfluide Personen, Vorkämpferinnen der Emanzipation oder weibliche Robin Hoods. Das britische Hörbuch "Hell Cats" ("Höllenkatzen") präsentiert sie als queere – und ziemlich gefährliche – Freiheitskämpferinnen, die sich in einer von Männern dominierten Gesellschaft behaupten. Doch wer waren Anne Bonny und Mary Read wirklich?
Anne Bonny soll vor ihrer Laufbahn als Piratin im Krieg gekämpft haben
Fest steht: Das heutige Bild der Piratinnen fußt vor allem auf der 1724 erschienenen Chronik "A General History of the Pyrates", veröffentlicht unter dem Pseudonym Captain Charles Johnson. Lange hielten Literaturexperten den "Robinson Crusoe"-Autor Daniel Defoe für den Verfasser der Schrift, eindeutige Belege für die Vermutung gibt es aber nicht. Bis heute ist die Identität des Urhebers unklar.
Doch widmet Johnson Anne Bonny und Mary Read in seiner Chronik eigene Kapitel und schildert dort ihre – wahrlich filmreifen – Biografien. Demnach ist Mary Read Ende des 17. Jahrhunderts als uneheliches Kind in England geboren worden. Die Mutter, eine Witwe, gab Mary als Junge aus – um zu verschleiern, dass ihr ehelich geborener Sohn verstorben war, und sich Unterhalt von der vermögenden Schwiegermutter zu erschleichen. Später kämpfte Mary – verkleidet als Mann – für England im Spanischen Erbfolgekrieg in Flandern. Als sich ein Soldat in sie verliebte, offenbarte sie ihr wahres Geschlecht, und heiratete ihn. Der starb jedoch, und Mary schloss sich – wiederum als Mann – einer Piratenbande an.
Anne Bonny ist laut Charles Johnson ebenfalls als Junge verkleidet aufgewachsen. Angeblich wurde sie in Cork in Irland geboren, als außereheliches Kind eines Anwalts. Dieser gab das Mädchen zunächst als Sohn von Verwandten aus. Als die Wahrheit aufflog, wanderten Vater und Tochter in die Neue Welt nach South Carolina aus. Dort brannte Anne als junge Frau erst mit einem Seemann durch und ließ sich mit ihm auf den Bahamas nieder. Doch dann verliebte sie sich in den Piraten Jack Rackham, schloss sich dessen Crew an und gab sich dafür als Mann aus.

Ebenjene Mannschaft nahm wenig später die als Seemann getarnte Mary Read auf. Der Neuzugang verdrehte Anne Bonny schnell den Kopf, ausgerechnet. Die beiden Frauen kamen sich näher – und lüfteten einander ihr Geheimnis. Bonnys Verhältnis mit Kapitän Rackham lief unterdessen weiter; ihn störte die Dreiecksbeziehung keineswegs. Auch Mary Read bandelte mit einem anderen Piraten an und soll an Bord seine Beschützerin gewesen sein.
In seiner Chronik schreibt Charles Johnson, die bunte Piratentruppe hätte für einige Zeit die Karibik unsicher gemacht – bis sie schließlich im Herbst 1720 von Männern der englischen Marine überwältigt wurde. Bei der Festnahme setzten sich angeblich allein Anne Bonny und Mary Read furchtlos und erbittert zur Wehr – während die männlichen Piraten betrunken unter Deck lagen.
Woher Johnsons Informationen über Bonny und Read stammten, gab er nicht preis. Immerhin: Die Existenz der Piratinnen gilt als gesichert. So warnt 1720 die Zeitung "Boston Gazette" vor einer Räuberbande in der Karibik, der zwei Frauen angehören. Die offiziellen Gerichtsakten von Jamaika führen Anne Bonny und Mary Read ebenfalls namentlich auf.
Anne Bonny und Mary Read waren weder weibliche Robin Hoods, noch Piraten-Königinnen
Wie die Piratinnen aufgewachsen sind, woher sie stammten, in welchem Verhältnis sie zueinander standen und ob ihre angebliche Liaison nicht eher der Fantasie Charles Johnsons entsprang, liegt jedoch völlig im Dunkeln. "Piraten-Königinnen" waren sie jedenfalls nicht; in keinem Dokument tauchen sie als Anführerinnen auf. Ohnehin erscheint ihre Mannschaft übersichtlich: Sie waren gemeinsam mit zwölf Gefährten auf einem winzigen, mit gerade einmal vier Kanonen bestückten Schiff unterwegs, geht aus den Gerichtsakten hervor. Die gemeinsame Piratinnen-Karriere des Duos währte nur wenige Wochen.
Für die im 20. Jahrhundert entstandene Legende von Vorkämpferinnen für Gleichberechtigung gibt es ebenfalls keine Hinweise. Dass die Frauen weibliche Robin Hoods waren, kann ausgeschlossen werden. Im Gegenteil: Sie überfielen vor allem Fischer, einmal sogar eine wehrlose Frau in einem Kanu. Anne Bonny und Mary Read waren Gewalttäterinnen, die aus Eigennutz handelten.

Doch obwohl das Gericht am 29. November 1720 die Todesstrafe über sie verhängt, enden sie nicht am Galgen. Nach der Urteilsverkündung geben sie an, schwanger zu sein. Das Gericht lässt sie untersuchen – und sieht von der Vollstreckung der Strafe ab. Offenbar haben die Frauen die Wahrheit gesagt. Ihre männlichen Kollegen dagegen sterben am Strick. Die letzten Worte Anne Bonnys an Kapitän Rackham lauten angeblich: "Wenn du wie ein Mann gekämpft hättest, müsstest du nicht wie ein Hund hängen."
Bonny stirbt – das belegen Akten auf Jamaika – im April 1721, bereits wenige Monate nach der Gerichtsverhandlung. Mary Reads Tod ist für das Jahr 1733 urkundlich.