Ruhig und gelassen gibt die Frauenstimme aus dem Lautsprecher des Smartphones Anweisungen: "Legen Sie eine Hand auf den Bauch und eine Hand auf die Brust. Atmen Sie ein, und lassen Sie die Luft tief in den Bauch strömen." Einatmen, ausatmen, entspannen – so geht es vier Minuten lang; auf dem Bildschirm des Mobiltelefons pulsiert ein farbiger Kreis im vorgegebenen Rhythmus des Atmens.
Unterstützung bei Ängsten und Stress
Die Übung ist Bestandteil eines Smartphone-Programms und einer Online-Anwendung, die in den USA für Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung entwickelt worden sind. Der "PTSD Coach" (von Post Traumatic Stress Disorder) soll Betroffene im Alltag unterstützen, etwa wenn sie von Traurigkeit, Stress, Angst oder Ärger überwältigt werden. Aufgaben wie diese Atemübung können helfen, Anspannung abzubauen und die Stimmung zu heben. Die Nutzer haben durch das Programm die Möglichkeit, sich Informationen über die Erkrankung und Therapiemöglichkeiten anzuhören – und anhand wöchentlicher Selbsttests zu verfolgen, wie sich ihre Symptome entwickeln.
Den PTSD Coach können aber auch Zivilisten nutzen, die beispielsweise nach einem Missbrauch oder einem Unfall unter einem Trauma leiden. Das Programm ist bereits hunderttausendfach heruntergeladen worden, von Nutzern in mehr als 115 Ländern.
Der PTSD Coach steht für eine bemerkenswerte Entwicklung: Digital gestützte Therapiehilfen sind dabei, die Gesundheitsversorgung psychisch Erkrankter grundlegend zu verändern. Derartige Selbstmanagement-Programme können auch bei Depression sehr nützlich sein, so Professor Ulrich Hegerl vom Universitätsklinikum Frankfurt und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Leichte und mittelschwere Verläufe im Fokus
Insbesondere gilt das für leichte und mittelschwere Krankheitsverläufe, bei denen Patienten in der Lage sind, selbst etwas für sich zu tun (anders bei schwerer Depression, denn dann fehlt in der Regel jeglicher Antrieb, Hilfsangebote zu nutzen). Ein umfangreiches onlinebasiertes Psychotherapieprogramm bei Depression, Burnout und Essstörungen betreibt etwa die Krankenhausgruppe Schön Klinik unter dem Namen MindDoc.
Patienten buchen zunächst online ein persönliches Erstgespräch. Da die Behandlungsdauer von vielen Faktoren abhängt, wird darüber gemeinsam entschieden. Eine einzelne Therapiesitzung dauert 50 Minuten. Zudem gibt es Angebote zur Meditation und Entspannung für daheim, ein Symptom- und Stimmungstracking sowie ein Krisentelefon.
Klinische Studien haben inzwischen belegt, dass Online-Therapien bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Depression sowie bei Angststörungen wirksam sind. Zudem können die elektronischen Angebote in allen Stadien der Behandlung zum Einsatz kommen: zur Prävention, als Einstieg, zur Ergänzung einer herkömmlichen Therapie oder zur Nachsorge, zum Beispiel nach einem Klinikaufenthalt.
Digitale Selbsthilfe per Rezept möglich
In Deutschland öffnen sich Krankenkassen, Mediziner und Therapeuten zunehmend den neuen digitalen Angeboten. Auf dem Deutschen Ärztetag 2018 wurde dazu die Berufsordnung zugunsten unterstützender Kommunikationsmedien geändert. Die Neuregelung beinhaltet, dass unter Umständen sogar eine ausschließliche Fernbehandlung möglich ist – auch wenn der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient im Vordergrund stehen sollte.
Das Ende 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz erlaubt es Ärzten zudem, digitale Gesundheits-Apps zu verschreiben – und es verspricht, dass Videosprechstunden Einzug in den ärztlichen Alltag halten sollen (mehr Infos).
Viele der heutigen Angebote beruhen auf der Verhaltenstherapie, die darauf abzielt, einem Patienten konkrete Strategien zur Bewältigung von Problemen zu vermitteln. Das erfordert intensive Mitarbeit: Übungsblätter müssen ausgefüllt, gestellte Aufgaben erledigt und regelmäßig Nachrichten über den Fortgang an den Therapeuten geschrieben werden.
Dies kann bei einer Depression dazu dienen, dem Tag wieder eine festere Struktur zu geben, sich verzerrte Gedanken bewusst zu machen oder die Schlafenszeiten besser zu regulieren.
Tracking-Apps erkennen problematisches Verhalten
Die Online-Angebote lassen sich zudem mit "Mental Health"-Apps für Smartphones kombinieren, denn viele Menschen haben ihr Telefon ohnehin meist griffbereit. So können sich Patienten mit Depression von den Programmen zum Beispiel stimmungsfördernde Aktivitäten vorschlagen oder sich zu Atemübungen und progressiver Muskelentspannung anleiten lassen.
Sogenannte "Mood Tracker" fragen mehrmals am Tag Informationen ab, beispielsweise wie man geschlafen hat, ob man sich schlapp fühlt oder hungrig, niedergeschlagen oder fröhlich. Das soll bei Depressionen helfen, Muster zu erkennen, die zu Tiefs führen. Oder auch herauszufinden, ob ein neues Medikament besser wirkt als das alte.
Denkbar wäre, dass es künftig alltäglich sein wird, mit Smartphone-Programmen Mobilfunkdaten auszuwerten, um die Stimmungslage des Patienten aufzuzeichnen. Wenn etwa dessen Aktivität in sozialen Medien auffällig abnimmt, er keine Telefonate mehr führt und die GPS-Daten zeigen, dass er die Wohnung nicht mehr verlässt, könnte das ein Alarmsignal für eine fortschreitende Depression sein.
Reaktionszeit am Bildschirm lässt auf Konzentration schließen
Eine App der US-amerikanischen Firma "Mindstrong Health" analysiert nicht nur, wie oft und wann Menschen ihr Smartphone nutzen, sondern auch wie schnell oder langsam sie auf Inhalte reagieren, scrollen oder tippen. Die Forscher haben während der Entwicklung "digitale Biomarker" bestimmt, die mit Anzeichen von psychischen Störungen korrelieren, zum Beispiel mit gedrückter Stimmung, Gedächtnisproblemen oder Selbstmordgedanken. Langsame Reaktionszeiten oder häufige Korrekturen beim Tippen zeugen etwa von einer schlechten Konzentration. Derartige Daten müssen selbstverständlich streng geschützt werden. Viele Experten begrüßen diese neuen Angebote, da sie:
- Menschen in dünn besiedelten Gebieten erreichen, wo die Wege zu einem Therapeuten häufig weit sind;
- auch jene ansprechen, die aus Scham vor dem Stigma einer psychischen Erkrankung nicht persönlich zum Arzt gehen würden;
- Betroffenen mit Depressionserkrankungen helfen, die bislang überhaupt keine Hilfe bekommen – die aber dank der Programme die oft langen Wartezeiten bis zu einem Erstgespräch überbrücken können.
Weitere Vorteile der digitalen Anwendungen: Sie sind vergleichsweise günstig – und zudem einfach und oft auch anonym zu nutzen. Vor allem Smartphone-Programme sind universell einsetzbar, ohne die Betroffenen an feste Zeiten zu binden.
Da viele Menschen ohnehin häufig ihre Telefone benutzen, glauben Experten, dass die Programme besonders stark dazu motivieren können, Übungen regelmäßig auszuführen.
Angebote mit wissenschaftlicher Fundierung
Zu den bekannteren Online-Angeboten gehört "moodgym". Forscher des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig haben das in Australien entwickelte Online-Angebot ins Deutsche übertragen, mit Unterstützung einer Krankenkasse. In einer Studie mit mehr als 600 Probanden untersuchten sie, ob es Patienten hilft, die noch keinen Therapieplatz haben und durch ihren Hausarzt versorgt werden. "Die Ergebnisse zeigen, dass in der Gruppe, die moodgym nutzt, die Depressivität abnimmt und die Lebensqualität steigt", so die Institutsleiterin Steffi Riedel-Heller.
Eine weitere fundierte Selbsthilfe-App heißt "COGITO", entwickelt von Expertinnen und Experten des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf. Die Anwendung stellt Selbsthilfeübungen für eine Reihe psychischer Probleme bereit, darunter Niedergeschlagenheit und Einsamkeit, aber auch mangelnde Impulskontrolle. Die verwendeten Selbsthilfeübungen basieren auf wissenschaftlich anerkannten Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und des Metakognitiven Trainings (MKT). Sie sollen zur Steigerung des mentalen Wohlbefindens und zur Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls sowie der Lebenszufriedenheit beitragen.
Doch neben einer Reihe weiterer wissenschaftlich geprüfter Programme (siehe Kasten links) gibt es Angebote, die ganz ohne Qualitätsprüfung auf den Markt kommen und zudem sensible Gesundheitsdaten sammeln.
Seriöse Anbieter zeichnen sich durch ein spezielles Konzept zur Datensicherheit aus. Auch die Beteiligung eines ausgebildeten Psychologen an der Entwicklung des Programms ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Daher sollte man Online-Angebote stets daraufhin genau prüfen.
Und: Die Diagnose einer Depression sollte stets von einer Fachperson vorgenommen werden. Experten sehen die elektronischen Angebote aus diesem Grund auch nicht als Arzt – Ersatz, sondern vor allem als eine sinnvolle Ergänzung klassischer Therapieformen.
Internetangebote und Apps
ONLINE-ANWENDUNGEN
NOVEGO
Kostenpflichtiges Unterstützungsprogramm für leichte bis mittelschwere Erkrankungen, das sich in einer Studie der Leuphana Universität Lüneburg bewährt hat. Persönliches Feedback durch psychologische Begleitung; ein Burnout-Programm kann dazugebucht werden.
Novego: Depressionen bewältigen
Novego: Soforthilfe bei Burnout
iFightDepression Tool
Kostenfreies Selbstmanagement-Programm für Erwachsene und Jugendliche mit leichten Depressionen, entwickelt im Rahmen eines europaweiten Forschungsprojekts. Die Patienten müssen ärztlich begleitet werden.
Deprexis
Als eingetragenes Medizinprodukt zertifiziertes Selbstmanagement-Programm; die Wirksamkeit wurde in 13 Studien nachgewiesen. Es reagiert individuell auf Antworten der Nutzer, ein Therapeut ist nicht beteiligt. Einlösbar mit Einschaltcode einer Krankenkasse.
Selfapy
Auch dieses Programm gibt es wie Deprexis auf Rezept. Es handelt sich um einen Online-Kurs mit Begleitung durch Psychologen, das Programm wurde und wird fortlaufend wissenschaftlich evaluiert.
HelloBetter
Wissenschaftlich geprüfte Online-Trainings mit persönlicher Begleitung. Hilfe unter anderem bei Depressionen, Stress, Angst, Panik, und Burnout. Auch auf Rezept, dank des Digitale-Versorgung-Gesetzes.
SMARTPHONE-APPS
MindDoc
Die App des Online-Therapie-Angebot MindDoc soll - etwa mit einem Stimmungstagebuch - helfen, herauszufinden, ob man sich professionelle Hilfe holen sollte.
CoachPTBS
Deutschsprachiges Äquivalent zur US-App PTSD Coach. Entwickelt vom Universitätsklinikum Dresden und der Bundeswehr. Erhältlich für iOS und Android.
Happify
Wissenschaftlich fundierte App, zur Stärkung des emotionalen Wohlbefindens. Interventionen aus den Bereichen positive Psychologie, Achtsamkeit und kognitive Verhaltenstherapie kommen zum Einsatz, um Stress abzubauen, negative Gedanken zu überwinden und die Resilienz zu verbessern.
COGITO
Kostenlose Selbsthilfe-App vom UK Hamburg Eppendorf, die sich an Menschen mit mentalen Problemen richtet, die aber auch von allen anderen zur Stärkung des eigenen mentalen Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit genutzt werden kann.